Aufarbeitung oder Schlußstrich?

Eine argentinische Untersuchungskommission widmet sich der Vergangenheitsbewältigung

von Holger M. Meding

Die deutsch-argentinischen Beziehungen sind traditionell gut. Vielen erschienen sie zuweilen sogar als zu gut. Argentinien hielt sich im Ersten Weltkrieg neutral und stellte sich im Zweiten Weltkrieg erst Ende März 1945, als die USA dies zu einer Bedingung für die Aufnahme in die Vereinten Nationen machten, auf die Seite der Alliierten. In der Ära Perón schließlich wanderten Zehntausende von Deutschen in die La-Plata-Republik aus, unter ihnen eine beträchtliche Zahl von Nationalsozialisten. Jetzt wird dieses verdrängte Kapitel der argentinischen Geschichte einer genaueren Prüfung unterzogen.

 

Die vom argentinischen Präsidenten Carlos Saúl Menem im Februar 1992 in einem medienwirksamen Festakt im ‘Weißen Salon’ der Casa Rosada freigegebenen Verschlußakten über geflüchtete Nationalsozialisten haben Argentinien international in die Schlagzeilen gebracht wie seit dem Malwinenkrieg nicht mehr. Die Dokumente des Geheimdienstes sollten nun endlich Aufschluß über ein Kapitel der argentinischen Geschichte geben, welches jahrzehntelang unter einem dichten Nebelschleier verborgen gelegen hatte. Der Andrang der Journalisten, Historiker und privaten Interessenten auf diese Akten war derartig groß, daß mehrere Kopien der Gesamtbestände gezogen werden mußten, um allzu lange Wartefristen zu vermeiden.

 

Doch den hohen Erwartungen folgte die tiefe Enttäuschung. Das freigegebene Dokumentenmaterial war schon quantitativ überaus geringen Umfangs gewesen, und in seiner Qualität hatte man den Quellenwert maßlos überschätzt. Bei den bislang offengelegten Archivalien handelte es sich zu einem großen Teil um Zeitungsausschnitte und Sekundärberichte, die der argentinische Geheimdienst gesammelt hatte und die sich allesamt auf Personen bezogen, deren Aufenthalt in Argentinien ohnehin bereits seit Jahrzehnten bekannt war. Die meisten Fälle waren zudem abgeschlossen, und selbst hier war das Material unvollständig und offensichtlich „gereinigt“ worden. Es ist schlechterdings unvorstellbar, daß der argentinische Geheimdienst zu brisanten Fällen wie dem Aufenthalt von Personen, die mit internationalem Haftbefehl und weltweitem Presseecho gesucht wurden, kaum Informationen besaß bzw. eruierte. Dennoch wurde dies behauptet. Diese Offenlegung der Archivbestände war ein Versuch, politisch aus einer Sackgasse heraus zu kommen, in welche die traditionelle Außenpolitik und mit ihr die Außenwirtschaftspolitik des Landes geraten waren. Die Konfliktstrategie Argentiniens gegenüber den USA in der Konfrontation über einen hegemonialen Status in Südamerika, die seit jeher von Buenos Aires betrieben worden war, hatte das Land in die Isolation geführt. Der Krieg mit Großbritannien um die beanspruchten südatlantischen Eilande hatte Argentiniens Stellung international ruiniert, und die Dritte-Welt-Strategie der ersten zivilen Regierung nach Ende der Militärdiktatur hatte in den Augen vieler Beobachter kein greifbares Ergebnis gezeitigt. Die nachfolgende peronistische Regierung unter Präsident Menem wollte einen Neuanfang wagen. Um sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in die Staatengruppe der sogenannten Ersten Welt einzureihen, sollten vor allem die Außen- und Wirtschaftsbeziehungen zu den USA verbessert werden, und dazu mußten schwere Steine aus dem Weg geräumt und vertrauensbildende Maßnahmen ergriffen werden. Insbesondere war im Vorfeld das Verhältnis zum Staate Israel zu bereinigen, dessen Belastung als ein wesentliches Hindernis angesehen wurde. Außenminister di Tella sprach gar von einer historischen Schuld.

 

Die Öffnung der Geheimarchive und weitere parallele politische Maßnahmen wie beispielsweise ein offiziell geförderter Kongreß zur Vergangenheitsbewältigung im September 1993 sekundierten Argentiniens Modernisierungsprozeß und brachten das Land dem zu erreichenden Ziel ein nicht unwesentliches Stück näher. Das Abtragen der auf sich genommenen Schuld geschah von seiten der Regierung jedoch hauptsächlich in einer medienwirksamen Offensive, die mehr einem Potemkinschen Dorf ähnelte als dem Bedürfnis einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Ära Perón. Die von kritischen Journalisten und orthodoxen Peronisten vorgebrachte Vermutung, daß Menem aus dem Schatten Peróns treten wolle, indem er den Gründer der justizialistischen Partei durch brisantes und geschickt zusammengestelltes Dokumentenmaterial in ein negatives Licht setze, kann daher nicht bestätigt werden, denn die freigegebenen Akten belasten das Perón-Regime in keiner Weise. Sie belasten eigentlich niemanden und sind historisch ohne Belang.

 

Umstrittene Kommission

 

Ein neuer Ansatz war somit vonnöten. Mitte 1997 schließlich richtete die argentinische Regierung eine international besetzte Untersuchungskommission ein (Comisión para el Esclarecimiento de las Actividades Nacionalsocialistas en la Argentina, CEANA). Die CEANA, die in ihrem Kuratorium mit namhaften Persönlichkeiten des Öffentlichen Lebens besetzt ist (z.B. Edgar Bronfman: Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Sir Ralph Dahrendorf: ehem. Rektor der London School of Economics, Richard Joseph Goldstone: ehem. Chefankläger des Jugoslawien-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag), und zu deren Mitarbeiterstab renommierte Lateinamerikahistoriker zählen (Ronald Newton, Mónica Quijada, Robert Potash, Luis Alberto Romero) hat zum Ziel, die Beziehungen Argentiniens zum Nationalsozialismus im weitesten Sinne aufzuhellen. Verschiedene Sektionen befassen sich innerhalb dieser Kommission für den Zeitraum von 1933 - 1955 mit Themen wie: Politische Beziehungen zwischen Argentinien und Deutschland; deutsche Investitionen in Argentinien; Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in der argentinischen Presse; Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in der argentinischen Literatur; Spanien und Italien als Durchgangsländer illegaler Argentinienmigration nach dem Krieg; von Argentinien angeworbene deutsche Techniker und Wissenschaftler; Auslieferungsverfahren gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher, etc. Zwischen- und Endberichte sollen schließlich über das Internet zugänglich gemacht werden (www.CEANA.org.ar). In Argentinien ist die Kommission umstritten. In der Anfangsphase kam es zu politischen Angriffen seitens der radikalen Opposition, wo geargwöhnt wurde, daß wohl nur das diktatorische Regime von Juan Domingo Perón weißgewaschen werden sollte. Kenner der Szenerie erklärten diese Unstimmigkeiten allerdings vor allem damit, daß der politische Proporz nicht gewahrt worden war. Auf der anderen Seite vermuteten die immer noch zahlreichen Anhänger des Generals, daß sich Präsident Menem zu Lasten des großen Perón profilieren möchte.

 

Andere meinen, daß der argentinischen Regierung das Ergebnis der Untersuchungen wohl völlig gleichgültig sei. Es komme ihr allein auf den Propagandaeffekt an. Buenos Aires wolle jeglichen künftigen Anwürfen entgegenhalten können, daß man alles Erdenkliche getan habe, die belastete Vergangenheit aufzuklären. Ein Schlußstrichprojekt also. Mag sein. Dennoch besteht für die Historiker mithin die Chance, sich über Quellenforschung einem Feld zu nähern, welches in den Jahrzehnten zuvor von einer dichten Dornenhecke aus Spekulationen, Halbwahrheiten und Erfindungen umrankt war.

 

Die Gruppe Mitteleuropa der CEANA, welcher der Verfasser vorsteht, befaßt sich im Zuge ihrer Recherchen mit der deutschsprachigen Nachkriegsauswanderung nach Argentinien und konzentriert sich dabei auf Personen, die aufgrund politischer Motive Europa verließen oder verlassen mußten sowie auf Personen, die wegen ihrer Handlungen im Kriege strafrechtlich verfolgt wurden. Das Untersuchungsziel ist eine Quantifizierung und eine Qualifizierung dieser Personengruppe. So soll ermittelt werden, wieviele Personen überhaupt aus Deutschland und Österreich in der Nachkriegszeit nach Argentinien gelangten und wieviele von diesen legal bzw. illegal ausreisten. Das derart gewonnene Material soll dann mit offiziellen statistischen Angaben der Dirección de Migraciones in Buenos Aires verglichen werden.

 

Das zweite Ziel der Untersuchung ist die biographische Seite des Geschehens. Hier stellt sich die Frage, wer nach Argentinien gekommen ist. Relevant sind in diesem Zusammenhang zwei Personengruppen: zum einen diejenigen, gegen die aufgrund ihrer NS-Aktivitäten juristisch ermittelt wurde und zum anderen diejenigen, die nach Ende des Krieges in Argentinien politisch - im nationalsozialistischen Sinne - aktiv blieben.

 

Das Wirkungsfeld Gruppe Mitteleuropa der CEANA, die ihre Arbeiten im Dezember 1997 aufnahm, sind hauptsächlich politische und juristische Archive in Deutschland und in Österreich. Ein großer Teil der Bestände wird zum ersten Mal von Historikern gesichtet und analysiert. Die Untersuchung wird erschwert durch die deutschen gesetzlichen Bestimmungen, die für Geheimsachen eine Öffnung der Archive erst 80 Jahre nach ihrer Entstehung verfügen. Der Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt für den Verfassungsschutz haben eine Archiveinsicht verweigert.

 

Perón holt Deutsche ins Land

 

Die deutsche Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg folgte den klassischen Motiven einer Auswanderung. Ihre Gründe waren die unerträglichen Lebensbedingungen in der Heimat, der demographische Überdruck, sowie die potentiell besseren Lebensaussichten im Zielland. Auslöser war eine politische Veränderung, die zu einer rapiden Verschlechterung der Lebensbedingungen geführt hatte, ohne daß mittelfristig eine Aussicht auf Besserung bestand. Was die Emigration der Zeit zwischen 1945 und 1949 von früheren Auswanderungswellen unterschied, war ihre Illegalität, da die Siegermächte über Deutschland ein generelles Auswanderungsverbot verhängt hatten. Nur in Ausnahmefällen war nach politischer Überprüfung und einem hürdenreichen Antragsverfahren die Ausreise gestattet. Jedoch wirkten die Beschränkung und ihre Sanktionen auf diejenigen, die nichts mehr zu verlieren hatten, nur in begrenztem Maße, und es bildete sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, dem alliierten Machtbereich zu entkommen. Als fast selbstverständliches Zielland kristallisierte sich sehr früh Argentinien heraus. Die neutrale bis deutsch-freundliche Position des Landes während des Krieges, das ritterliche Verhalten gegenüber deutschen Internierten, die starke deutsche Gemeinschaft und nicht zuletzt die autoritäre Regierungsführung General Peróns - mit seiner ideologischen Spitze sowohl gegen den Kommunismus als auch gegen den Kapitalismus - bildeten die Gründe für die starke Wanderungsbewegung an den Río de la Plata.

 

Buenos Aires betrieb zudem eine forcierte Immigrationspolitik, welche ein funktionales Element in dem Bestreben darstellte, die argentinische Position in Südamerika zu stärken. Sowohl auf der Ebene der Masseneinwanderung als auch im Bereich der qualifizierten Immigration schuf die argentinische Regierung geeignete Institutionen, die den Migrationsstrom über den Atlantik dirigierten. In den argentinischen Konsulaten in Europa, denen Perón diesbezügliche Anweisungen gegeben hatte, besaßen die Ausreisewilligen erste Anlaufadressen. Besonders deutschen Argentinienaspiranten wurde der Weg an den Río de la Plata auf vielfältige Weise geebnet. Deutsch-Argentinier, die sich ihrer Landsleute in Übersee annehmen wollten, erhielten Unterstützung der nationalen Behörden. Alle diejenigen, die vor den alliierten Kriegsverbrechertribunalen auf der Flucht waren und sich an die Konsulate der La-Plata-Republik wandten, erhielten in Argentinien politisches Asyl.

 

Flucht- und Emigrationsrouten, welche die Überseehäfen zum Ziel hatten, entstanden größtenteils improvisiert und wurden individuell begangen. Wichtigstes Sprungbrett nach Südamerika war Italien. Unabhängig voneinander und unkoordiniert machten sich schon 1945 die ersten Ausreisewilligen in Richtung Süden auf. Die vielfach unüberschaubare Situation im flüchtlingsüberquellenden Nachkriegsdeutschland half ihnen und ihren Nachfolgern, das dichtmaschige Kontrollnetz der Alliierten zu durchdringen; die im Kriege herangebildete Kameradschaft bewirkte, daß Unterkunft bzw. Unterschlupf fast immer gewährt wurden. Das Schmugglerwesen in den Grenzregionen hatte Hochkonjunktur, und lokale Behörden waren in einer Zeit des Mangels und der Not Geld- und Sachzuwendungen zugänglich, so daß sich die illegale Ausreise ihre Wege bahnte.

 

Bei umfassender Hilfeleistung durch die Katholische Kirche spielte sich bald für Italien und - in geringerem Maße - auch für Spanien ein funktionierendes System ein: die Kirche stellte ihre Verbindungen koordinierend zur Verfügung, das Rote Kreuz vergab die Dokumente, und das argentinische Konsulat erteilte nach Rücksprache mit der Einwanderungsbehörde in Buenos Aires die Visa. Personen, an denen Argentinien vorrangig interessiert war - Wissenschaftler, Techniker, Ingenieure - hatten es noch leichter: Der argentinische Staat warb sie direkt an, organisierte und finanzierte den Transfer. Das jeweilige Konsulat (schwerpunktmäßig in Rom und Kopenhagen) gab ihnen argentinische Pässe und ließ sie auf dem Luftweg nach Buenos Aires bringen. Was oftmals als ausgedehnte NS-Fluchthilfeorganisation angesehen wurde, war tatsächlich die Summe von verschiedenen ‘Hilfslinien’, die von Argentinien ausgingen.

 

Insgesamt belief sich der Zustrom von Deutschstämmigen - Reichsdeutschen, Volksdeutschen, Österreichern, repatriierten Deutsch-Argentiniern - in der Ära Perón auf 30.000 bis 40.000 Personen, von denen schätzungsweise zwei Drittel aus Gebieten stammten, welche die Rote Armee besetzt hatte. Damit stellten die Einwanderer etwa 10 bis 15 Prozent der deutschen Gemeinschaft am Río de la Plata. Etwa 1 bis 2 Prozent dieses Personenkreises waren aus primär politischen Gründen gekommen; die Zahl derer, die weder vor alliierten noch später vor bundesdeutschen Gerichten auf Gnade hoffen konnten und die sich auf Dauer verbergen mußten, bewegt sich um 50 Personen.