Mit Nonchalance dem Tod begegnen

Der Tag der Toten in Mexiko

von Andreas Wilmot

In westeuropäischen Industriestaaten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, begeht die Mehrheit der Bevölkerung den „Gedenktag der Toten“ mit Wehmut. Diesem Bild wird in Mexiko völlig widersprochen. Hier ist der Tod „etwas Lebendiges“. So kommt es denn auch, daß sich bereits im Diesseits die Barriere zwischen Leben und Tod auflöst.

 

Die Menschheit empfand von jeher einen heiligen Schauer vor dem Tod. Denn im Gegensatz zur Geburt, scheint hier der Weg im Nichts zu enden. Wovor sich die meisten ängstigen ist jedoch nicht das Jenseits, sondern der Übergang nach dort - das Intermezzo. So mancher Erdenbürger wünscht daher ein rasches, schmerzloses Ableben. Wenn möglich: „Ein-hinüber-Schlafen“, um hernach in einer anderen Dimension zu erwachen. Doch bislang läßt sich nicht Schicksal spielen. Auch wenn heute - durch Forschung und Medizin - der Countdown des Individuums verzögert wird, ist 'die Reise ins Jenseits' unumgänglich, da die biologische Uhr eines Tages zum Stillstand kommt.

 

Die Mexikaner bekümmert das wenig. Sie schlugen dem Tod ein Schnippchen. Zwar gestehen sie ein „sich vor der Art des Sterbens zu fürchten“, haben aber vergleichsweise zu anderen Ländern westlicher Hemisphäre, „den Tod dem Leben angepaßt“, ihn sozusagen ins Diesseits transformiert und zu einem natürlich Vertrauten werden lassen, dem man jederzeit begegnen kann. Alltägliches in Mexiko wie: 'La Calzada del Hueso' (Die gepflasterte Knochenstraße), 'La Barranca del Muerto' (Die Todesschlucht) wurde so in Relation mit dem Tod gebracht. Und da sich bereits in diesem Leben „auf und durch ihn gehen läßt“, ist er wohl kein compañero, vor dem man auf der Hut sein muß. Ganz im Gegenteil! Wer dachte jemals zuvor an eine süße Begegnung mit ihm - außer den Konditoren, die alljährlich kurz vor Allerheiligen die calaveras auf den Markt schleudern: aus Zucker oder Schokolade modellierte Totenschädel, die Namen künftiger Käufer auf der Stirnseite tragen und Kinder wie Erwachsene in Freudentaumel versetzen: „Die Calavera ist super, der Tod ist süß!“

 

Der Friedhof lebt

 

Mit Nonchalance begegnen die Mexikaner dem Tod, aber auch dem Monat November. Wo vielerorts in Europa, nach Eintritt von naßkalter Feuchtigkeit und Nebel, der Trend zu Melancholie und Selbstmord sich erhöht - steigt hingegen in Mexiko das Stimmungsbarometer auf Hoch. Nun ist es nicht nur, daß „Fortuna dem mexikanischen Volk mit sonnigem Klima lächelte“ - sondern ein Zeremoniell besonderer Art: „Los Días de los Muertos“, der Toten Gedenktage, die alljährlich Anfang November den Auftakt zu einem Familienfest geben. Sodenn erstrahlt, nachdem der Tag zur Neige geht, urplötzlich der Friedhof in einem Lichtermeer weißer Kerzen, die die Mexikaner ihren Verstorbenen auf die Grüfte stellen. Zum Bersten gefüllt ist der Friedhof. Und die Totenstille ist wie weggefegt im Stimmengewirr der Besucher. In Grabreihen vereinzelt, erhebt sich liturgischer Gesang im Wechsel mit dem Rosenkranz. Überall riecht es nach Copal, einem entzündeten Räucherwerk. Der Friedhof „lebt“! Alt und jung ist, herbeiströmt „die Familie zu besuchen“. Dabei geht keiner leer aus. Denn alle haben sie das Lieblingsessen der einst Lebenden mitgebracht. Nun sitzen sie „gemeinsam“ fröhlich da. Genießen und philosophieren über „Ursprung und Genetik des Individuums“, dessen „Wurzeln tief in der Erde sind“. Mancher Besucher weilt so am Grabe bis zum Anbruch des folgenden Tages.

 

Ein Labsal für Auge und Gemüt sind auch ofrendas: Kleine Altäre auf öffentlichen Plätzen, Parkanlagen und Märkten bis hin zum Tante-Emma-Laden, welche allerlei Gaben aufnehmen. Ob pan de muertos, dem süßen Totenbrot aus Hefeteig, ob Schokolade- und Zuckerguß-Calaveras oder Kürbis, Zuckerrohr und zuweilen auch die 'Cola-Light-Dose' - alle haben eines gemeinsam: den Besuchern aus dem Jenseits das Diesseits, wie dazumal, „so angenehm als möglich“ zu gestalten. 'Cempasuchitl' darf dabei auch nicht fehlen. Die leuchtend orangefarbene Nelken-ähnliche Totenblume, wird in manch ländlicher Gegend „als Empfangsteppich und Wegweiser“ für die „seltenen Gäste“ - vom Eigenheim bis zum Friedhof ausgelegt: damit jene wohlbehalten „zum Familienfest“ finden. Was manchem Europäer ein obskurer Ritus, ist dem Mexikaner höherer Gusto. Für ihn bedeutet Tod nicht etwas Vom-Leben-zu-Trennendes, sondern natürlicher Bestandteil des Lebens. Nezahualcoyotl, der Königspoet einer Texcoco-Tribu sagte 1325 dazu folgendes in einem Gedicht: „Wenn wir sterben, sterben wir nicht wirklich - da wir leben. Das macht uns glücklich für Künftiges“. Seine damaligen Gedanken haben auch heute in Mexiko, im bald endenden 20. Jahrhundert, ihre Wirkung nicht verfehlt.