Zwischen 'Magischem Realismus' und ökonomischer Krise

Betrachtungen zum jungen argentinischen Film

von Stefan Kunzmann

Während die achtziger Jahre auch bezüglich des lateinamerikanischen Films als „verlorene Dekade“ betrachtet werden können, hatte der wirtschaftliche Aufschwung zu Beginn der neunziger Jahre in einigen lateinamerikanischen Ländern die Rückbesinnung auf die gemeinsame kulturelle Identität zur Folge. Darüber hinaus flossen zunehmend internationale Gelder in die Länder mit eigener Filmtradition. Argentinien stand dabei an der Spitze.

 

Der neue argentinische Filmboom setzte Mitte der neunziger Jahre ein. In dem Land am Rio de la Plata, das nur zu gern an den eigenen Mythen strickt, kam parallel zu Alan Parkers Musical-Verfilmung von 1996 ein weitaus anspruchsvollerer Evita-Film heraus, der die Hauptdarstellerin Esther Goris zum Star machte. Waren die ersten Jahre nach der Militärdiktatur der filmischen Bewältigung dieser als grausamsten Dekade in die argentinische Geschichte eingegangenen Zeit gewidmet, so wendete man sich nun verstärkt weiter zurückliegenden Themen aus der Landesgeschichte zu. Mit Tango Feroz setzte der Regisseur Marcelo Pineyro einem legendären Rockbarden der sechziger Jahre, der nach dem Aufenthalt in einer Nervenklinik auf mysteriöse Weise ums Leben kam, ein Denkmal und landete den Kassenschlager des Jahres 1993. Ein weiterer Erfolg war Herbstsonne, die Liebesgeschichte zweier älterer Menschen mit den beiden herausragenden Schauspielern des argentinischen Kinos, Federico Luppi und Norma Aleandros.

 

Federico Luppi spielt auch die Hauptrolle in Adolfo Aristarains Martín (Hache). Er ist darin ein alternder Filmemacher, der sich in seine Einsamkeit zurückgezogen hat. Sein drogenabhängiger, gleichnamiger Sohn wird zu ihm nach Madrid geschickt, um dort seine psychische Stabilität wiederzuerlangen. Doch Vater und Sohn sind zu Verständnis und Kommunikation nicht fähig. Luppi erhielt für seine Darstellung die „Concha de Plata“, die Auszeichnung für die beste männliche Hauptrolle bei den Filmfestspielen von San Sebastián 1997.

 

Marcelo Pineyros Caballos salvajes ist ein echtes Roadmovie über einen alten Mann, der einem jungen Bankangestellten droht, sich auf der Stelle zu erschießen, wenn er nicht genau jenen Geldbetrag zurückbekäme, um den ihn die Bank vor Jahren betrogen habe. Wie in Tango Feroz setzt Pineyro auf die unterhaltsame Umsetzung seiner Sozialkritik: „Für mich ist das Genre keine Fessel, sondern eine Hilfe“, so der Regisseur. „Ich möchte Filme machen, die die Leute ins Kino locken, die mit den anderen Filmen konkurrieren und trotzdem etwas an sozialen Werten vermitteln.“ Mit Cenizas del paraíso hat Pineyro sein bisher reifstes Werk gedreht. In Rückblenden und wechselnden Erzählperspektiven wird der Mord an einem jungen Mädchen und der scheinbare Unfall eines Untersuchungsrichters rekonstruiert. Der fesselnde Thriller liefert ein düsteres Bild des von Korruption zerfressenen modernen Argentiniens. Am Ende des Films heißt es lakonisch: „Gerechtigkeit wird es nicht geben.“

 

Das Zusammenspiel von Magischem Realismus und filmischer Vergangenheitsbewältigung wie in Sur von Fernando E. Solanas und besonders die Tangomusik Astor Piazzollas wurden in Europa zum Synonym für Argentinien. Davon profitieren auch jüngere Regisseure wie Eliseo Subiela, der in El lado oscuro del corazón den Elementen des Magischen huldigt: Oliverio ist ein Poet, der in Buenos Aires lebt und seine Verse von berühmten Dichtern zusammenklaut. Er balanciert stets am Rande der Pleite und ist auf der Suche nach einer Frau, die fliegen kann, bis er eines Tages eine Frau kennenlernt, die seinen Ansprüchen gewachsen zu sein scheint.

 

Inzwischen läuft die argentinische Filmproduktion auf Hochtouren. 1996 wurden 35 Filme produziert, darunter regelrechte Blockbuster wie die beiden Action-Spektakel des letztjährigen Winters, Comodines von Jorge Nisco und La Furia von Juan Bautista Stagnaro. Bei Comodines handelt es sich um den an den Kinokassen erfolgreichsten Film der argentinischen Filmgeschichte, einem Kriminalfilm, der es durchaus mit Hollywood-Produktionen aufnehmen kann. Durch ein neues staatliches Filmförderungsgesetz sind nun auch die privaten Fernsehanstalten gezwungen, sich an der Filmsubvention zu beteiligen - bis zu 50 Millionen Dollar sollten so 1997 in den staatlichen Fördertopf kommen, von dem vor allem junge Filmemacher profitieren. Der Generationenwechsel findet zur Zeit statt: Die „Dinosaurier“ wie Solanas und Fernando Birri werden von den „Hormiguitas“ abgelöst. Die jungen Absolventen der Filmhochschule von Buenos Aires bezeichnen ihr Schaffen selbst als „jungen argentinischen Film“. Sie propagieren mit ihren auf Festivals ausgezeichneten Kurzfilmen und Dokumentationen einen Realismus, der den Alltag zum Thema macht und politische Botschaften mit den Elementen des Unterhaltungskinos verbindet. Doch von den versprochenen Geldern haben sie noch nicht viel gesehen. Der junge Regisseur Esteban Sapir besorgte sich über Ersparnisse und Kleinkredite 35.000 Dollar für seinen Film Picado Fino. Und er weist auf das immer noch grundlegende Problem der jungen argentinischen Regisseure hin: „Die größte Schwierigkeit, die wir jungen Filmemacher in Argentinien haben, ist die fehlende Unterstützung durch die Filmförderung und Produzenten. Keiner traut sich so recht an neue formale und inhaltliche Sachen heran.“

 

Zwänge werden zu Stilmitteln

 

Tomás, der Protagonist von Picado Fino, zieht rast- und schlaflos durch die abgewrackten Straßen einer tristen Vorstadt. Er liest zum Frühstück „Ulysses“ und träumt ständig von einem Leben im Norden, wo alles viel besser sein soll. Er wird zum Drogendealer, um seine schwangere Freundin und sich selbst ernähren zu können. Sapirs collagenhafter Film ist ein Trip zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Schwarz-Weiß-Bilder sind grobkörnig bis unscharf und zeigen eine fragmentierte Welt aus Orten, Objekten und Schildern. Der Symbolismus wirkt stellenweise aufdringlich, doch kann man sich der Sogwirkung des Films kaum entziehen. Dieser Sog entsteht vor allem durch einen fast hypnotischen Ton, der sich aus monoton-technoartigen Rhythmen, Froschquaken und dem Schrillen eines Weckers zusammensetzt. Die Dialoge treten bis zur Unverständlichkeit in den Hintergrund. Am Ende gibt es eine Sonnenfinsternis und Tomás’ Freundin bekommt ein Kind.

 

Die Filmhochschule von Buenos Aires überraschte bei den letztjährigen Berliner Filmfestspielen und auf vielen weiteren Festivals durch eine aufsehenerregende Produktion: Moebius ist ein abendfüllender Spielfilm, der im Kollektiv von 45 Studenten unter der Leitung ihres Dozenten Gustavo Mosquera entstand. Ein Kamerastudent erzählt, daß gerade die fehlenden Gelder halfen, den eigenen Stil zu finden: „Wir hatten große produktionstechnische Probleme. So lernten wir, diese Zwänge als Stilmittel einzusetzen.“ Der Film zeigt das Tunnelnetz der „Subte“ von Buenos Aires als unüberschaubares, abgründiges Labyrinth, in dem eines Tages ein vollbesetzter U-Bahn-Zug spurlos verschwindet. Ein Topologe namens Daniel Pratt (eine Hommage an den italienischen Comic-Autoren Hugo Pratt) wird mit der Suche beauftragt. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf die Aufzeichnungen des ebenfalls verschwundenen Konstrukteurs Hugo Mistein. Die neue Linie, auf welcher der Zug verschwand, ist eine Moebius-Schleife, jenes nach dem Leipziger Mathematiker benannte Band, das in eine andere Dimension von Raum und Zeit führt. In dem Film kommen die nationalen Mythen wie Tango und Borges ebenso vor wie die Ikonen der neuen Generation. Er könnte auch auf eine Comic-Geschichte um einen verschwundenen U-Bahn-Waggon von Ricardo Barreiro und Eduardo Risso zurückgehen. Moebius ist nicht nur ein wahres Experimentierfeld für Filmstudenten, er ist mehr noch ein kollektives Statement zur politischen und sozialen Situation Argentiniens. In dem eine klaustrophobische Stimmung vermittelnden Filmexperiment sind die „desaparecidos“, die Verschwundenen der Militärdiktatur, als latentes Motiv stets präsent, ohne daß sie direkt genannt werden. In den Gängen der U-Bahn hängen Plakate mit ihren Fotos. Am Ende sagt der Bürgermeister von Buenos Aires lakonisch: „Meine Herren, hier ist nichts vorgefallen.“

 

Nicht in der Metropole Buenos Aires, sondern in der Abgeschiedenheit Patagoniens spielt Invierno mala vida von dem 28-jährigen Gregorio Cramer. In dieser mythenreichen und menschenfeindlichen Gegend lebt Valdivia, der sich von Gelegenheitsjobs und kleinen Diebstählen ernährt und sich auf die Suche nach einem goldenen Schaf begibt. Cramers erster Spielfilm ist voller skurriler Gestalten und erzählt die Geschichte eines scheinbar Gescheiterten in einer Landschaft, die vom Wind beherrscht wird und in der sich der Einzelne in der unendlichen Weite zu verlieren scheint.

 

Eine der Haupttendenzen im argentinischen Film war in den letzten Jahren die Entwicklung hin zur spannenden Unterhaltung. Daß dabei weder der kritische Aspekt noch die eigenen kulturellen Wurzeln vergessen wurden, belegen die aktuellen Filme. Moebius und Invierno mala vida sind auf den ersten Blick völlig unterschiedlich, doch weisen die Filme auch Gemeinsamkeiten auf. Vom Geldmangel und den daraus resultierenden Schwierigkeiten bei den Dreharbeiten abgesehen, führen sie mit einer beeindruckend poetischen Bildsprache in eine Dimension zwischen Traum und Wirklichkeit. Darüber hinaus werden in Filmen wie Invierno mala vida oder Solanas’ El viaje Beobachtungen der sozialen Realität auf erfrischend ironische Weise gebrochen und zugleich zugespitzt. Wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas sucht der Film an der Schwelle zum 21. Jahrhundert einen neuen Platz zwischen Sozialkritik und Unterhaltungskino.