Argentinische Grausamkeiten

Gibt es Gerechtigkeit für die in Argentinien verschwundenen Deutschen?

von Katya Salazar

Die Verbrechen aus den Zeiten der Militärdiktatur werden die Argentinier noch so lange beschäftigen, wie die Verbrecher und Mörder sich unter ihnen frei bewegen. Die Chance, diese Wunde noch in diesem Jahrhundert zu schließen, ist in Argentinien durch die Schlußpunktgesetze vorerst vertan worden. Nun versuchen Betroffene im Ausland Gerechtigkeit zu bekommen.

 

Betina Ehrenhaus ist Deutsche und lebt in Buenos Aires. Ihr Großvater, der Regisseur an der Dresdner Staatsoper war, emigrierte in den 40er Jahren auf der Flucht vor dem Krieg nach Lateinamerika. Auf der Suche nach einem friedlichen Land zog es ihn nach Argentinien. Damals schien es unvorstellbar, was dort Jahre später passieren sollte. An einem Sonntag im Jahre 1979 wollte Betina, damals 21 Jahre alt, zusammen mit ihrem Freund Pablo dessen Eltern besuchen. Dabei wurden sie von drei Autos aufgehalten, denen ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Männer entstieg. Ihnen wurden die Augen verbunden, sie wurden geschlagen und ins berüchtigte Konzentrationslager Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA) gebracht. Betina wurde mit verbundenen Augen verhört und an Brust, Bauch, Beinen und Mund mit einer Picana (ursprünglich elektrischer Knüppel, mit dem das Vieh zusammengetrieben wurde, als Folterinstrument in Argentinien zu trauriger Berühmtheit gelangt) gefoltert bis sie ohnmächtig wurde. Sie hatte keine Ahnung, was die Männer von ihr wollten, als sie immer wieder aufgefordert wurde „zu singen“. Zwei Tage später wurde sie wieder in ein Auto verfrachtet und kurz darauf freigelassen. Man drohte ihr, sie zu ermorden, falls sie jemandem etwas über das Gehörte oder Gesehene erzählte. Ihre letzte Erinnerung an Pablo sind seine Schreie, die er während seiner Folterung ausstieß. Sie sah ihn nie wieder.

 

Entführung auf der Straße

 

Am 16. Februar 1978 wurden Marcelo Weisz, seine Ehefrau Susana González und ihr drei Monate altes Kind von Unbekannten auf offener Straße entführt. Der Säugling wurde kurze Zeit später Susanas Mutter übergeben und diese über die „Verhaftung“ des Paares informiert. Zahlreiche Zeugen sahen die beiden in den Verhaftungs-Untergrundzentren El Banco und El Olimpo. Diese befanden sich zu dieser Zeit in Buenos Aires und unterstanden dem 1. Armeekorps unter Befehl von Carlos Guillermo Suárez Masón. Über den Zeitraum eines Jahres hinweg „besuchte“ Marcelo seine Familie in Begleitung seiner Folterer.

 

Marcelos Mutter sagte über die Besuche:“...seine Peiniger, wie zum Beispiel der berühmte ‘Turco Julián’, Colores del Cerro oder ein Mann, genannt ‘El tío’ brachten ihn in mein Haus. Normalerweise kamen sie an Samstagen, aßen und tranken und blieben ungefähr zwei Stunden. Marcelo erzählte mir, daß es ihm gut ginge und er ‘Büroarbeiten’ mit anderen ‘Kollegen’ verrichte...“

 

Ab 1979 hörte sie nichts mehr von ihrem Sohn und seiner Frau, bis sie eines Tages Hector Julio Simón, einen Ex-Regierungsbeamten der Bundespolizei, im Fernsehen sah und ihn als einen der Männer identifizierte, die sie ein Jahr lang mit ihrem Sohn ‘besucht’ hatten. Es war ‘Turco Julián’, der zwar von Dutzenden Überlebenden angeklagt wurde, aber aufgrund des Schlußpunktgesetzes (ley de punto final) von 1986, sowie des Gesetzes über den pflichtgemäßen Gehorsam (ley de obediencia debida) von 1987 auf freiem Fuß blieb. Jener ‘Turco Julián’ bekannte sich vor laufenden Kameras zu den während der Militärdiktatur vorgefallenen Geschehnissen, gab zu, daß “der allgemeine Befehl darin bestanden habe, alle umzubringen” und bezeichnete das Ehepaar Weisz als zwei „Verschwundene”, die später ermordet worden waren.

 

Der Weg der Straflosigkeit

 

Bevor die letzte argentinische Militärjunta 1983 die Macht übergab, veröffentlichte sie umfangreiche Dokumente, in denen sie die gesamte Verantwortung für die Planung, die Überwachung und die Ausführung des Krieges gegen die Subversion übernahm. Sie gab den Einsatz „unkonventioneller“ Methoden in diesem Kampf zu und erklärte außerdem, daß das „Vorgehen“ der Angehörigen der Streitkräfte in den auf den „Befreiungskrieg“ bezogenen Operationen „Aktionen der Dienstleistung“ dargestellt hätten. Sie bestätigte, daß es keinen „lebenden Verschwundenen“ gebe, sondern nur „während der Auseinandersetzung Umgekommene“. Als wäre dies nicht genug, erließ sie zu guter letzt auch noch das sogenannte „Gesetz der Selbstamnestie“. Durch dieses Gesetz wurden die im Zeitraum von Mai 1973 bis Juni 1982 durch die Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Subversion begangenen Straftaten als nicht strafrechtlich verfolgbar erklärt.

 

Nach den Wahlen 1983 schien der neuen Regierung daran gelegen, die Verantwortlichen für tausende Fälle des „Verschwindens“ zur Zeit der Militärdiktatur vor Gericht zu stellen und zu bestrafen. Kurz nachdem er das Amt des Präsidenten angetreten hatte, ordnete Raúl Alfonsín die Einleitung von Gerichtsverfahren gegen die ersten drei Militärjuntas an. In Bezug auf das „Gesetz der Selbstamnestie“ erklärte der Kongreß diese für verfassungswidrig, nichtig und ohne juristische Auswirkungen. Damit schien der Weg frei für die Prozesse gegen die Verantwortlichen der Greueltaten. Durch das Schlußpunktgesetz und das Gesetz des pflichtgemäßen Gehorsams wurde dieser Kurs aber wenige Jahre später radikal geändert. Die Verurteilung der während der Diktatur begangenen Straftaten wurde nahezu unmöglich. Die wenigen inhaftierten Militärs wurden vom späteren Präsidenten Carlos Menem begnadigt und auf freien Fuß gesetzt.

 

Gerechtigkeit kennt keine Grenzen

 

Den Angehörigen der Opfer blieb keine andere Möglichkeit mehr, als sich an ausländische Gerichte zu wenden, da sie jegliche Hoffnung verloren hatten, vor nationalen Gerichten jemals Gerechtigkeit zu erlangen. 1983 reichten daher Angehörige von Hunderten während der argentinischen Diktatur verschwundenen Italienern eine erste Strafanzeige bei der römischen Staatsanwaltschaft ein. Im Oktober 1989 verurteilte das Pariser Apellationsgericht den Kapitän Alfredo Astiz wegen der Ermordung zweier Nonnen zu lebenslanger Haft. Mitte 1996 leitete auch das spanische Gericht Ermittlungen wegen Terrorismus und schweren Völkermordes an Spaniern zur Zeit der Militärdiktatur ein.

 

Das waren jedoch nicht die einzigen „verschwundenen“ Ausländer in Argentinien. 1983 reichte eine Gruppe von Angehörigen ein Habeas Corpus wegen des Verschwindens von 48 Deutschen und Deutschstämmigen ein und bekam keine Antwort. Mindestens 70 Menschen, die Deutsche oder deutscher Abstammung waren, verloren während der Militärdiktatur ihr Leben. Obwohl ihre Angehörigen sich an nationale, internationale, weltliche und geistliche Instanzen wandten, um die Täter vor Gericht zu bringen und sämtliche Formalitäten einhielten, die man von ihnen verlangte, erhielten sie niemals eine Antwort. Die deutsche Botschaft in Argentinien fiel ebenfalls nicht durch übermäßigen Arbeitseifer auf. Idalina de Tatter, deren Mann 1976 entführt wurde, reichte eine Anzeige gegen den damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, sowie weitere Mitarbeiter des Ministeriums ein, die aber kurze Zeit später zu den Akten gelegt wurde.

 

Trotz der Frustration und der langen Zeit, die seither vergangen ist, haben die Angehörigen noch nicht resigniert. Vor einigen Monaten sahen sie die Möglichkeit, ein Gerichtsverfahren in Deutschland in Gang zu bringen. Die oben genannten Prozesse und Urteile aus anderen Ländern ließen die Umstände günstig erscheinen. Zu dieser Zeit wandte sich Adolfo Pérez Esquivel, Friedensnobelpreisträger und selbst betroffenes Opfer der argentinischen Repression, an das Centro de Derechos Humanos (DIML, Menschenrechtszentrum Nürnberg) und erbat die Unterstützung deutscher Organisationen, um dieses Gerichtsverfahren initiieren zu können.

 

Die Koalition gegen die Straflosigkeit

 

Im März 1998 wurde nach vielen Monaten der Beratung und der vorbereitenden Arbeiten die Coalición contra la Impunidad (Koalition gegen die Straflosigkeit) gegründet. Es handelt sich dabei um eine Vereinigung verschiedener Menschenrechts-Nichtregierungsorganisationen wie zum Beispiel der katholischen und evangelischen Kirche, die sich mit der Absicht zusammengetan haben, einen Gerichtsprozeß wegen des Verschwindens deutscher und deutschstämmiger Staatsbürger während der argentinischen Militärdiktatur in Gang zu setzen. Am 7. Mai wurden die Anzeigen offiziell beim deutschen Justizministerium eingereicht. Neben einigen anderen Fällen geht es auch um die oben geschilderten Fälle von Betina Ehrenhaus und Marcelo Weisz. Bei den Angeschuldigten handelt es sich um 41 Mitglieder der argentinischen Streitkräfte und des Sicherheitsapparates, teilweise noch aktiv oder im Ruhestand, darunter die Mitglieder der Militärjunta, die Argentinien von 1976 bis 1983 regierten. Das Ministerium sagte zu, die Strafanzeigen über den Generalbundesanwalt an eine vom Bundesgerichtshof zu bestimmende Staatsanwaltschaft zu übergeben.

 

Die Mehrzahl der in den Anzeigen aufgeführten Straftaten wurde durch verschiedene nationale und internationale Instanzen überprüft. Im Falle des Prozesses gegen die Militärjuntas gilt die Existenz eines Machtapparates, der gegen die vermeintliche ‘Subversion’ zu kämpfen befahl, als bewiesen. Die Befehle lauteten: „...diejenigen, die verdächtigt werden, Verbindungen zur Subversion zu haben, zu verhaften...sie unter Folter zu verhören...sie unter unmenschlichen Bedingungen gefügig zu machen, ...alles unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit auszuführen.“ Einen großen Handlungsspielraum hatte dabei das untergebene Personal, von dem das weitere Schicksal des Festgenommenen bestimmt wurde, nämlich ob er später freigelassen werden sollte, der nationalen ausführenden Macht zur Verfügung zu stehen hätte, militärischen oder zivilen Prozessen unterworfen oder wahlweise physisch eliminiert werden sollte.

 

Die Würfel sind bereits gefallen. Wir warten lediglich auf die Richtlinien der zuständigen Staatsanwaltschaft, um die nächste Arbeitsetappe beginnen zu können. Die Koalition vertraut darauf, daß sich Deutschland, auch aufgrund seiner geschichtlichen Vergangenheit, auf eine Stufe mit den anderen europäischen Ländern stellt, um seinen Bürgern Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Oder stimmt es, daß „es wichtiger sei, einen Mercedes-Benz zu verkaufen, als einen Verschwundenen zu suchen“, wie es Betina Ehrenhaus vor 19 Jahren von einem Beamten der deutschen Botschaft gesagt bekam?

 

Informationen: Koalition gegen Straflosigkeit

c/o Nürnberger Menschenrechtszentrum

Adlerstr. 40, 90403 Nürnberg