"Was wir machen, ist organischer..."

Das Gespräch mit Walter Salles, dem Regisseur von Central do Brasil und Gewinner des Goldenen Bären, führten Sonja Hofmann und Donata Dröge während der Filmfestspiele in Berlin.

MATICES: Herr Salles, wie ist die Idee zu dem Drehbuch von Central do Brasil entstanden?

 

SALLES: Ich habe vor zwei Jahren einen Dokumentarfilm (Socorro Nobre) über den Briefwechsel einer Frau, die zu 36 Jahren Haft verurteilt war, und dem in Brasilien lebenden Bildhauer Frans Krajcberg gedreht. Der Film erzählt davon, wie die Frau eines Tages im Gefängnis einen Artikel in einer Zeitschrift über diesen Bildhauer entdeckt, der im Amazonasgebiet, wo ganze Landstriche niedergebrannt wurden, verbranntes Holz in Skulpturen umformte und ihnen damit eine Art zweite Geburt gab. Die Frau schrieb dem Bildhauer dann gleich einen Brief, daß sie sehr gerührt war von seiner künstlerischen Arbeit und daraus neuen Lebensmut schöpfen konnte. Mich hat das stark beeindruckt als eine sehr radikale Kunstform, die ein Leben ändern kann und einen sehr emotionalen Effekt auf jemanden hatte und ich finde, daß die Kunst generell diese Radikalität verloren hat. Zudem war ich wirklich erstaunt, daß am Ende des 20. Jahrhunderts, im Zeitalter des Computers und der virtuellen Kommunikation, etwas so Prosaisches wie ein Brief es schafft, ein Leben zu ändern. Das hat mich längere Zeit beschäftigt, und ein paar Monate später wachte ich mit der Idee zu Central do Brasil auf und schrieb alles an einem Tag nieder, und die ganze Architektur war da.

 

MATICES: Ist die Figur der Briefeschreiberin im Film auch erfunden?

 

SALLES: Ja, alles ist erfunden. Aber man findet natürlich diese Briefeschreiber in Brasilien, wie auch in allen Gesellschaften, in denen es Analphabetentum gibt, in China oder im Iran oder eben in Brasilien. Die Struktur des Films jedenfalls war da, ich begann gerade, Terra Estrangeira zu drehen und habe zwei junge Drehbuchautoren eingeladen, denn ich wollte Central do Brasil mit ganz neuen Leuten machen; sie verbesserten die Geschichte auch, und es gab sicher 20 verschiedene Versionen, aber die Struktur des Films blieb immer dieselbe. Als wir dann von dem Drehbuchpreis hörten, den das Sundance-Festival zum 100. Geburtstag des Kinos ausgeschrieben hatte, sandten wir unser Skript hin und haben tatsächlich den Drehbuchpreis gewonnen, und dann konnte das Projekt starten.

 

MATICES: Ihre Themen in Terra Estrangeira und Central do Brasil kreisen um Exil und Identitätssuche. Sind das typische Themen für den lateinamerikanischen Film oder hat es eher persönliche Gründe?

 

SALLES: Ich denke, diese Themen sind konstitutiv für die brasilianische Geschichte, wahrscheinlich auch für meine eigene aber auch für alle Länder, die kolonialisiert wurden. Im Portugiesischen haben "pai" (Vater) und "pais" (Land) eine direkte Beziehung zueinander. Unsere Väter, die Kolonisatoren, haben unser Land nach der "Entdeckung" wieder verlassen und ließen ihre Söhne zurück, daher richtet Terra Estrangeira den Blick nach Portugal, da hier der Sohn versucht, in diesem Land eine neue Existenz aufzubauen, was ihm verwehrt wird, wie es auch den Afrikanern der ehemaligen portugiesischen Kolonien verwehrt wird. Die Suche nach Identität und die Suche nach dem Vater, sei es ein realer Vater einer Familie oder ein symbolischer einer Nation, ist konstitutiv für unsere Realität. In meinem persönlichen Fall ist es so, daß ich in vielen verschiedenen Ländern gelebt habe, da mein Vater einige Zeit als Diplomat arbeitete, und die Integration in neue Realitäten ist Bestandteil meines Lebens. Doch wäre ich nicht Teil dieses Landes, würde ich wohl andere Themen wählen.

 

MATICES: In Brasilien gibt es ja eine neue Filmgesetzgebung; wie hat diese sich auf das Filmschaffen ausgewirkt?

 

SALLES: Aus polititschen und ökonomischen Gründen wurde zu Beginn der 90er Jahre überhaupt kein Film produziert, erst 1994 mit dem Sturz Collors begann durch die neue Gesetzgebung, die Unternehmern Anreize bot, in kulturelle Projekte zu investieren, eine neue und sehr plurale, unterschiedliche Produktion, die es vor der Krise nicht gegeben hatte, und alle diese Filme haben die Lust, Filme zu machen, gemeinsam.

 

MATICES: Wie haben Sie Ihre beiden Filme Terra Estrangeira und Central do Brasil finanziert?

 

SALLES: Terra Estrangeira entstand gerade zu Beginn dieser neuen Situation. Daniela Thomas (Co-Regie) und ich entschieden, möglichst sparsam zu produzieren; wir drehten vier Wochen auf drei Kontinenten für nur 600 000$, probten den gesamten Film vor Beginn der Dreharbeiten und drehten auf Super 16 und Schwarz/Weiß, damit wir die Inneneinrichtungen der Häuser nicht anzumalen brauchten, doch dies wurde auch den Erfordernissen des Films gerecht. Riofilme, die Nachfolgerin des Brasilianischen Filminstituts, half uns bei der Fertigstellung. Und jetzt wurde Central do Brasil von Riofilme in Gang gebracht und von Sundance, denn mit dem Drehbuchpreis hatten wir auch einen Produktionszuschuß gewonnen. Wir fanden dann den Schweizer Produzenten Arthur Cohn, der uns nicht nur in der Produktion, sondern auch im kreativen Bereich sehr geholfen hat, sowie Co-Produzenten aus Frankreich und Italien und den japanischen Produzenten, der Wayne Wangs Smoke gemacht hat. Ein ganzes Netz von Produzenten arbeitete zusammen, um den Film auf die Leinwand zu bringen, der mit insgesamt 2,9 Mio.$ noch recht billig war.

 

MATICES: Es ist ja häufig von einem neuen brasilianischen Kinoboom die Rede. Was werden Ihrer Meinung nach die Themen des brasilianischen Kinos der nächsten Jahre sein?

 

SALLES: Die Mehrheit der brasilianischen Filme seit der Wiedergeburt des brasilianischen Kinos befaßt sich mit den Fragen "wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir ?", wie auch der Film von Bruno Barreto, der letztes Jahr auf der Berlinale lief und von den 70ern handelte, einer Zeit, an die sich erst sehr wenige Personen herangetraut haben. Andere Filme gehen noch weiter in der Geschichte zurück; es gibt eben ein Bedürfnis, auszudrücken, wer wir sind. Das charakterisiert das brasilianische Kino und es wird wohl noch eine Weile andauern, bis dieser Zyklus zu Ende geführt ist, denn bis zum 500sten Jahrestag der Entdeckung Brasiliens im Jahr 2000 bleibt es ein sehr präsentes Thema. Dann werden wir vielleicht bereit sein für ein Kino der Genres wie in Europa, wo so viele Filme produziert werden, daß man sich die Entwicklung verschiedener Genres leisten kann. Das, was wir machen, ist organischer, den Bedürfnissen des Landes angepaßt, und vielleicht führen wir auch den Weg des Cinema Novo fort. Wir sind sehr an der brasilianischen Geographie interessiert, was man auch in Central do Brasil sehen kann. Nicht nur an der physischen Geographie, sondern auch der menschlichen, der Geographie in den Gesichtern... Den Personen nicht nur Stimmen zu geben, sondern auch Gesichter, die man in den brasilianischen Telenovelas nicht zu sehen bekommt, denn die tragen drei Kilo Make-up und verkörpern die Idealisierung von Leben und Konsum, die Kamera stundenlang auf irgendwelche Werbelogos gerichtet... Das Kino aber besitzt die seltsame Fähigkeit, etwas völlig Anderes zu zeigen. Godard hat einmal gesagt, daß Fernsehen Vergessen hervorbringt. Das Kino hingegen gibt die Möglichkeit, Erinnerungen zu schaffen. Unsere Erinnerung der 50er Jahre ist Nelson Pereiras Vidas Secas; die der 60er sind alle Filme von Glauber Rocha, und unser Spiegel der 70er ist vielleicht Bye Bye Brasil (Carlos Diegues, d. Red.) und so setzt sich das fort. Die Tatsache, ganz ohne Fernsehfinanzierung arbeiten zu müssen, hat letztenendes eine sehr wichtige Unabhängigkeit im brasilianischen Kino geschaffen.

 

MATICES: Haben Sie bereits ein weiteres Filmprojekt in Planung?

 

SALLES: Ich habe wieder ein Projekt mit Daniela Thomas gemacht, eine Folge für die Serie von Arte "2000, gesehen von...", an der 10 Regisseure beteiligt sind. Unser Film heißt Minuit und handelt vom Wechsel von 1999 zu 2000, ein nettes Projekt, in das jeder seine eigenen, ganz persönlichen Visionen einbringen kann...

 

MATICES: Vielen Dank für das Gespräch.