Von der Kolonie zur Unabhängigkeit

Kuba im 19. Jahrhundert

von Heinz Joachim Domnick

Die kubanische Geschichte des 19. Jahrhunderts ist von auffälligen Widersprüchen geprägt. So stand den wiederholten Versuchen wagemutiger Einzelner und kleiner Gruppen, die Unabhängigkeit zu erkämpfen, lange Zeit ein erhebliches Desinteresse, teilweise sogar die ausdrückliche Gegnerschaft breiter Bevölkerungsschichten und der Eliten entgegen. Doch obwohl sich am grundsätzlichen politischen Status Kubas als Kolonie nichts änderte, erlebte die Antilleninsel zur gleichen Zeit einen tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel. Die Veränderungen sollten letztlich wieder auf die jahrzehntelang erfolglos gebliebenen Bemühungen um Unabhängigkeit zurückwirken und ihnen am Ende des Jahrhunderts zum Erfolg verhelfen - ohne daß Kuba jedoch wirklich "frei" wurde. Diese umfassenden Prozesse wurden zudem von dem nur schwer zu fassenden Phänomen der Entstehung einer cubanidad begleitet, durch die, so unsicher ihre jeweilige Definition durch die einzelnen sozialen Gruppen und Klassen auch sein mochte, die Einwohner der Insel sich mit zunehmender Schärfe vom Mutterland abgrenzten. Die Prozesse wurden so zu den wesentlichen geistigen Voraussetzungen für die endgültige und dauerhafte Trennung von Spanien.

Schon diese kurzen Vorbemerkungen lassen erkennen, daß eine geraffte, aber trotzdem aussagekräftige Darstellung der komplexen Thematik ohne umfassende Sachkenntnis nicht möglich ist. Entsprechend können hier nur kurz einige Hauptentwicklungslinien der kubanischen Geschichte im vorigen Jahrhundert skizziert und einige ihrer wesentlichen Ereignisse angesprochen werden.

 

Wirtschaft und Gesellschaft Kubas im 19. Jahrhundert

 

Kuba, das von Kolumbus bereits auf seiner ersten Reise 1492 entdeckt worden war, hatte sich nach seiner Eroberung ab 1510/11 für einige Jahre zum spanischen Hauptstützpunkt in der "Neuen Welt" entwickelt. Mit dem Beginn der großen Eroberungen auf dem Festland verlagerte sich der Schwerpunkt der kolonialen Expansion aber schnell dorthin. Kubas Bedeutung in den folgenden Jahrhunderten beschränkte sich daher vor allem auf seine strategische Schlüsselfunktion für die Seeverbindungen zwischen den amerikanischen Kolonien und der europäischen Metropole. Diese Bedeutung der Antilleninsel wurde der spanischen Krone durch die britische Eroberung Havannas (1762) im Siebenjährigen Krieg deutlich vor Augen geführt. Der britische Vorstoß trug deshalb entscheidend dazu bei, daß ein lang geplantes Bündel kolonialpolitischer Maßnahmen in die Tat umgesetzt wurde, die später unter dem Namen "bourbonische Reformen" bekannt geworden sind. K

 

Kuba bildete in diesem Zusammenhang nach dem Abzug der Engländer so etwas wie ein Experimentierfeld, auf dem ein großer Teil dieser Reformen erstmalig erprobt wurde. Darüber hinaus hatte die englische Besetzung aber auch einen ersten Aufschwung der Zuckerwirtschaft mit sich gebracht, deren Anfänge schon auf die frühe Kolonialzeit zurückgingen.

 

Der endgültige Durchbruch für die kubanische Zuckerproduktion kam dann nach 1791, als aufgrund des Sklavenaufstandes und der nachfolgenden langjährigen inneren Wirren, Haiti als Lieferant des begehrten Süßstoffes weitgehend ausfiel. Die Ereignisse auf der Nachbarinsel wurden auf Kuba sehr aufmerksam beobachtet und ließen dort zwar das Schreckbild eines Sklavenaufstandes entstehen, das über Jahrzehnte hinweg das politische Verhalten der kubanischen Eliten gerade im Blick auf die Unabhängigkeit beherrschte. Gleichzeitig führten sie aber auch zu einer enormen Ausdehnung des Zuckerrohranbaus, so daß Kuba bald Haiti als Hauptzuckerlieferant in der Karibik ersetzte. Die kubanische Zuckerproduktion stieg innerhalb weniger Jahrzehnte von 50.000 (1820) auf 700.000 (1870) Tonnen, die überwiegend exportiert wurden. Diese Produktionssteigerung war nur möglich durch eine massive Zunahme der Arbeitskräfte, in erster Linie der schwarzen Sklaven, deren Gesamtzahl 1868 365.000 betrug. Der Einsatz afrikanischer Sklaven war jedoch nicht unproblematisch, da ihre "Einfuhr" durch die strikte Antisklavereipolitik Großbritanniens erheblich erschwert wurde. Die trotzdem in großer Zahl illegal eingeführten Sklaven verteuerten sich deshalb enorm. Die kubanischen Pflanzer unternahmen vielfältige Anstrengungen, um andernorts billige Arbeitskräfte zu rekrutieren und holten u.a. von der mexikanischen Regierung in den guerras de castas gefangengenommene Maya ebenso als Zuckerrohrarbeiter auf die Insel wie Tausende angeworbener chinesischer Kulis. Durch diese Entwicklungen und Maßnahmen veränderte sich die soziale und ökonomische Struktur Kubas erheblich, wobei aber nicht übersehen werden darf, daß zwischen den einzelnen Regionen zum Teil große Unterschiede bestanden. Das "klassische" Gebiet der großen Zuckerrohrplantagen lag im Westen, während das Zentrum und der Osten von anderen Besitzstrukturen und Produktionsmethoden geprägt war. Als einziges nennenswertes Ausfuhrgut der Insel konnte sich neben dem Zucker nur der Tabak halten; ohne jedoch dessen insgesamt dominierende Stellung in der kubanischen Wirtschaft anzutasten. Die Großgrundbesitzer des Westens bildeten zusammen mit den spanischen Kolonialbeamten und Militärs und spanischen Großhändlern die gesellschaftliche Schicht, die am meisten am Fortbestehen der spanischen Kolonie interessiert waren, während sich unter den kleinen und mittleren Landbesitzern, der Stadtbevölkerung und den freien Schwarzen erheblicher Unmut über die intransigente spanische Finanz- und Wirtschaftspolitik anstaute, welche die Interessen der Kreolen weitgehend denen des Mutterlandes unterordnete.

 

Vorläufer der Unabhängigkeit

 

Kuba blieb zwar, oberflächlich betrachtet, von den politischen Erschütterungen auf dem Festland zu Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend unberührt, trotzdem spielte der Gedanke der Unabhängigkeit schon früh eine wichtige Rolle in den politischen Planungen zumindest eines kleinen Teiles der Bevölkerung. Ohne die zahlreichen Aufstände und Aufstandsversuche im einzelnen zu erörtern, kann festgehalten werden, daß diese Unternehmungen trotz ihres Scheiterns nicht ohne Rückwirkungen auf die Herausbildung einer eigenen kubanischen Identität blieben und dadurch schließlich doch politische Bedeutung gewannen. Gerechterweise sollte in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen werden, daß selbst die Protagonisten der "großen" Unabhängigkeitsbewegungen Hispanoamerikas zumindest zu Beginn ihrer "Tätigkeit" in der Regel ebenfalls nur die Interessen einer Minderheit repräsentierten. Der große Teil der Bevölkerung stand in seiner jeweiligen Heimatregion der Trennung vom spanischen Mutterland zumindest anfangs nicht weniger skeptisch gegenüber als die Mehrheit der Kubaner in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

 

Kuba und die USA

 

Ein nicht unwesentlicher Grund für das Fortbestehen des kubanischen Kolonialstatus war, neben den spezifischen Interessen der kubanischen Elite, das Verhältnis der Großmächte und der bereits unabhängigen hispanoamerikanischen Republiken zu Kuba. Als in den zwanziger Jahren die vollständige Liquidation des spanischen Kolonialimperiums anzustehen schien, zeigten sowohl Großbritannien als auch die USA nachhaltiges Interesse an einem Erwerb der Karibikinsel. Der Rivalität der angelsächsischen Staaten entsprachen die Widersprüche zwischen den Vorstellungen Bolívars, der am liebsten Kuba nach gelungener Befreiung in das von ihm geschaffene (Groß-)Kolumbien eingegliedert hätte, und den mexikanischen Vorbehalten gegenüber einem derartigen Schritt. Vor dem Hintergrund dieses komplizierten Gemenges von Interessen und Rivalitäten ergab sich die Beibehaltung des "status quo" auch aus außenpolitischen Gründen nahezu zwangsläufig.

 

Spanien blieb somit zwar auf Kuba präsent, konnte aber trotzdem den unaufhaltsam wachsenden Einfluß der USA auf die Insel nicht verhindern. Der Nachbar im Norden wurde als Hauptmarkt für die kubanischen Erzeugnisse und Lieferant von Fertigwaren wichtigster Handelspartner der Insel. "Schon 1850 beherrschten die Vereinigten Staaten ein Drittel des Handels Kubas und verkauften und kauften dort mehr als Spanien, ... das Sternenbanner wehte auf den Masten von mehr als der Hälfte der Schiffe, die dort anlegten. Ein spanischer Reisender fand 1859 tief im Innern in weitab gelegenen kleinen Dörfern von Kuba Nähmaschinen nordamerikanischer Herkunft. Die Hauptstraßen Havannas wurden mit Granitblöcken aus Boston bepflastert." (Eduardo Galeano. Die offenen Adern Lateinamerikas). Die spanische Regierung versuchte die Interessen der Produzenten im Mutterland mit einer rigiden Zollpolitik gegen die unliebsame Konkurrenz zu schützen, doch trug sie hiermit nur zur Entfremdung zwischen Kolonie und Metropole bei.

 

Angesichts der engen Beziehungen zwischen Kuba und seinem nördlichen Nachbarn wurden auf der Insel sogar Forderungen nach einer Aufnahme in die Union laut, zumal die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den Südstaaten denen auf Kuba stark ähnelten. Mit der Abschaffung der Sklaverei und der Niederlage des Südens im Sezessionskrieg verloren die USA für diese kubanischen "Annexionisten" aus naheliegenden Gründen allerdings schlagartig an Attraktivität. Von US-amerikanischer Seite blieb das Interesse an Kuba, das vom Ex-Präsidenten Adams schon in den zwanziger Jahren ein natürliches Anhängsel des nordamerikanischen Kontinentes genannt worden war, dagegen das ganze 19. Jahrhundert über konstant. Washington unterbreitete Madrid immer neue Kaufgesuche, hatte aber keinen Erfolg, da Spanien nicht bereit war, auf die "Perle der Antillen" zu verzichten.

 

Der zehnjährige Krieg (1868-1878)

 

Während die großen Zuckerpflanzer im Westen der Insel, die koloniale Bürokratie und die spanischen Händler kein Interesse an Veränderungen auf Kuba zeigten, wurde ein großer Teil der Bevölkerung immer unzufriedener mit der spanischen Herrschaft. Insbesondere kleine und mittlere Grundbesitzer im entlegenen Osten der Insel (Oriente), unter denen sich viele Mulatten und freigelassene Schwarze befanden, kritisierten die Zoll- und Steuerpolitik der spanischen Zentralregierung und verlangten vergeblich politische Autonomie. Als in Spanien 1868 eine Revolution ausbrach, sahen auch diese Gruppen ihre Stunde gekommen und begannen mit dem Grito de Yara unter der Führung von Carlos Manuel de Céspedes den ersten kubanischen Unabhängigkeitskrieg (1868-1878). Da die reichen Plantagenbesitzer des Westens ein Umschlagen der Auseinandersetzungen in eine soziale Revolution befürchteten, blieb der Krieg überwiegend auf den Oriente beschränkt. Nachdem die Versuche der Aufständischen gescheitert waren, den Westen durch Eigentumsgarantien und Beibehaltung der Sklaverei zur Teilnahme an der Rebellion zu bewegen, radikalisierte sich der Aufstand zunehmend. Zahlreiche Farbige und befreite Sklaven schlossen sich der Bewegung an, deren Führer immer stärker für die Abschaffung der Sklaverei eintraten. Dies entfremdete den Westen noch mehr und erleichterte es dem spanischen Militär, den Aufstand erst im Osten zu isolieren, und dann mit überlegenen Kräften niederzuzwingen, wobei ihm Streitigkeiten zwischen den Führern der Rebellion zu Hilfe kamen. Im Februar 1878 endete der Krieg mit dem Kompromißfrieden von Zanjón, auch wenn einzelne radikale Führer des Aufstandes wie Antonio Maceo noch eine Zeitlang weiter kämpften, bis auch sie sich zur Aufgabe gezwungen sahen.

 

Obwohl der Unabhängigkeitskampf fehlgeschlagen war, hatte er doch erhebliche Veränderungen auf Kuba bewirkt. Die Sklaven im Osten der Insel waren frei, während die im Westen in den folgenden Jahren frei werden sollten. Er hatte außerdem starke antispanische Ressentiments geschaffen und damit, zumindest in den aufständischen Gebieten, erheblich zur Entstehung eines kubanischen Nationalgefühls beigetragen. A

 

Als dann die spanische Regierung ihre Reformversprechungen aus dem Friedensvertrag nicht erfüllte und zudem die Kubaner mit neuen Steuern belastete, kam es nur wenige Jahre nach Zanjón zu einem neuen Aufschwung der Unabhängigkeitsbewegung.

 

José Martí - Der Apostel?

 

Aus der Retrospektive ist die Geschichte des zweiten kubanischen Unabhängigkeitskrieges untrennbar mit dem Namen von José Martí (1853-1895) verbunden, der als treibende Kraft hinter dem 1892 gegründeten Partido Revolucionario de Cuba (PRC) stand. Martí, Sohn eines spanischen Einwanderers, hatte sich seit seiner frühesten Jugend für die kubanische Unabhängigkeit eingesetzt und war mehrfach zu Zwangsarbeit und Verbannung verurteilt worden. In zahlreichen politischen Schriften und unermüdlicher propagandistischer Arbeit arbeitete er zielstrebig auf einen zweiten Unabhängigkeitskrieg hin, der schließlich im Februar 1895 ausbrach. Martís politisches Ziel war die Gründung einer kubanischen Republik, in der weitreichende Maßnahmen zur Beseitigung der sozialen und ökonomischen Unterschiede und zur Sicherstellung der Gleichheit der Rassen durchgeführt werden sollten. Durch lange Jahre im nordamerikanischen Exil bestens mit der Lateinamerikapolitik der USA vertraut, stand er ihnen äußerst mißtrauisch gegenüber, da er befürchtete, daß die Vereinigten Staaten vor einem Sieg der Unabhängigkeitsbewegung in Kuba intervenieren würden, um die spanische Herrschaft abzulösen.

 

Martís Stellung unter seinen Mitkämpfern, unter denen bedeutende Veteranen des ersten Krieges eine führende Rolle spielten, war nicht unumstritten. Der Kernpunkt ihrer Differenzen war die unterschiedliche Ansicht über die jeweilige Bedeutung von Militärs und Zivilisten in der Führung des Aufstandes, wobei Martí sich offensichtlich nicht gegen die Veteranen durchsetzen konnte, die auf Kuba viel populärer waren als er. Als José Martí schon einen Monat nach seiner Rückkehr nach Kuba bei Dos Ríos fiel, tauchte deshalb auch bald die bis heute weder bewiesene noch widerlegte Vermutung auf, er habe den Freitod gesucht. Fast eine Generation nach seinem Tod, vor allem nach der kubanischen Revolution von 1959, erlebte Martí dann eine Aufwertung zum "apóstol" und "Vater der kubanischen Nation", die es bis heute schwierig macht, seine zweifellos vorhandene historische Bedeutung richtig einzuschätzen.

 

Der zweite Unabhängigkeitskrieg (1895-1898)

 

Der zweite Unabhängigkeitskrieg auf Kuba unterschied sich erheblich von der ersten Auseinandersetzung wenige Jahrzehnte vorher. Durch die spanische Politik und das Vordringen nordamerikanischen Kapitals hatten sich die allgemeinen ökonomischen Bedingungen auf Kuba wesentlich geändert, so daß bei Ausbruch der Kämpfe weite Teile der Wirtschaft in US-amerikanischen und spanischem Besitz waren. So konnte der Aufstand im Westen zwar militärisch niedergeschlagen werden, die Unabhängigkeitsbewegung blieb aber diesmal trotzdem auf der ganzen Insel aktiv, auch wenn ihr Schwerpunkt erneut im Osten lag. Die Auseinandersetzung nahm schnell den Charakter eines Vernichtungskrieges an, wobei der spanische Oberbefehlshaber Valeriano Weyler sich aufgrund seines brutalen Vorgehens unter den Kubanern besonders verhaßt machte. Doch trotz aller Härte in der Kriegsführung, und obwohl Spanien schließlich mehr als 200.000 Mann auf Kuba einsetzte, gewannen die Unabhängkeitskämpfer allmählich die Oberhand. In dieser Lage nützten dem Mutterland auch politische Zugeständnisse nichts mehr. Im Gegensatz zu 1878 fand sich im Lager der Rebellen keine Mehrheit für einen Kompromiß; ihr erklärtes Kriegsziel blieb die volle staatliche Unabhängigkeit.

 

Als dieses Ziel greifbar nahe schien, erfolgte 1898 die von José Martí befürchtete Intervention der Vereinigten Staaten. Nach einem kurzen, siegreichen Feldzug erzwangen die USA zwar die Anerkennung der kubanischen Unabhängigkeit durch Spanien, besetzten die Insel aber gleichzeitig militärisch für mehr als vier Jahre bis zum Amtsantritt des ersten kubanischen Präsidenten Estrada Palma. Doch auch danach blieb die Selbstbestimmung Kubas durch das sogenannte "Platt-Amendment" in seiner Verfassung eingeschränkt, das den USA ein permanentes Interventionsrecht einräumte, von dem sie in den folgenden Jahrzehnten mehrfach Gebrauch machten. Der lange Kampf gegen die Kolonialherrschaft hatte Kuba damit de jure zwar die Unabhängigkeit gebracht, von wirklicher Souveränität war das Land am Beginn des 20. Jahrhunderts aber noch weit entfernt.