In neuem Glanz

Alfaguara legt Juan Benet neu auf

von Gunnar Nilsson

Fünf Jahre nach dem Tod des wahrscheinlich einflußreichsten spanischen Romanciers der 'posguerra' hat sich der Verlag Alfaguara Anfang 1998 zur Neuauflage des Gesamtwerks Juan Benets entschlossen, fünf Jahre, in denen sich publizistisch wenig ereignet hat.

 

Die Monate nach jenen tragischen Januartagen 1993 waren von zahlreichen Hommages, von Sonderteilen in Literaturzeitschriften und von einer nicht enden wollenden Zahl von Nachrufen auf den Dichter gekennzeichnet. Javier Marías, Félix de Azúa, Eduardo Mendoza und Antonio Martínez Sarrión sind nur einige der Namen aus der 'Crème' der derzeitigen Literaturszene, die damals ihrer Bestürzung über den Tod des Dichters Ausdruck und seinem Gesamtwerk die notwendige Würdigung verliehen - eine Würdigung, die Benet zu Lebzeiten nie zuteil wurde: Die großen Literaturpreise waren an ihm vorbeigegangen und bis heute streiten sich die Gemüter, warum ihm ehemals der Zugang zur Real Academia versperrt geblieben war.

 

Spanien, so wurde in jenen Tagen des Jahres 1993 deutlich, hatte eine große Persönlichkeit verloren, eine Persönlichkeit, die nicht nur ein beeindruckendes Œuvre in Form von Romanen, Erzählungen und Theaterstücken hinterließ, sondern auch eine stets unabhängige und deshalb nicht selten unbequeme Stimme im Chor des spanischen Geisteslebens gewesen war. Letzteres war es vielleicht auch, was ihm den schnellen Weg zur Anerkennung erschwerte.

 

Mit dem Jahreswechsel 93/94 wurde es still um Benet. Es schien, als ob Presse- und Verlagswesen, Wissenschaft und Publikum wieder zum Tagesgeschäft zurückkehren würde, ein Tagesgeschäft, zu dem Benet freilich nicht gehören sollte (und zuvor auch nie recht gehören wollte).

 

Nur gelegentlich erschien in irgendeiner wissenschaftlichen Fachzeitschrift der ein oder andere jener Artikel, von denen der Benet-Kenner Epicteto Díaz mit einiger Selbstironie sagt, daß sie eh keiner lese, oder man hörte von einzelnen Bemühungen einiger Benet-Enthusiasten, fernab des Rampenlichts breiter Aufmerksamkeit. So publizierte der Amerikaner John Margenot eine hervorragende, kommentierte Cátedra-Ausgabe des Meisterwerks Saúl ante Samuel (1994), der Dichter Juan Carlos Suñen stellte die Prosas civiles (1994) zusammen, eine Sammlung 'technischer' Artikel (Benet war zeitlebens als Bauingenieur tätig) und 1996 erschienen die Páginas impares, die einen Teil der Essayistik Benets wieder zugänglich machten. Zahlreiche Werke aber, La otra casa de Mazón (1973) Trece fábulas y media (1981) oder auch El angel del señor abandona a Tobías (1976) ..., verschwanden aus den Regalen der Buchhandlungen, und manch einem weiteren Text stand - und steht noch bis heute - ein ähnliches Schicksal bevor: Vergriffen!

 

Angesichts dieser traurigen Situation kann es nur mit Beifall bedacht werden, wenn Alfaguara - der Hausverlag Benets in der zweiten Hälfte seiner Schaffenszeit - ankündigt, die Obras completas herauszubringen. Freilich ist eine gewisse Skepsis angebracht, ob es wirklich die Obras completas sein werden, denn der erste der zwei im vergangenen Januar erschienenen Titel, Cuentos completos, glänzt dadurch, eben nicht ganz 'completo' zu sein. Unseres Wissens fehlt mindestens eine Erzählung, die Benet ehemals in einer Literaturzeitschrift publiziert hat. Von der Aufarbeitung unver-öffentlichter Texte ganz zu schweigen ...

 

Nun gut. Worum handelt es sich nun im Falle der Cuentos completos bzw. der Trece fábulas y media y deci-mocuarta? Die Cuentos completos basieren im Wesentlichen auf den teils legendären Kompilationen von Erzählungen, die in den 60er und 70er Jahren herausgekommen sind und nur zum Teil Neuauflagen erlebt haben: Da ist zum einen Nunca llegarás a nada (deutsche Übers.: Du wirst es zu nichts bringen (1992)), jener erste Erzählband, den Benet in Eigenfinanzierung 1961 publizierte, und der neben den hermetisch verschlossenen 'cuentos' Duelo, Después und Nunca llegarás a nada auch die Erzählung Baalbec - una mancha enthielt, die einem Neuling in Sachen Benet wohl am ehesten den Zugang zu der mythisch-geheimnisvollen Landschaft 'Región' verschafft, dem locus (meist) terribilis der überwiegenden Zahl der Benet'schen Werke: Der neureiche Huesca - und das ist die seltene Ausnahme in Región - hat dort tatsächlich ein Anwesen erworben, in einer Gegend also, in der sonst niemand leben will, in der nichts als Zerfall und Verwahrlosung herrscht, und wo die Fehden der alteingesessenen Familienclans seit Jahrhunderten ihren regelmäßigen Blutzoll fordern. Schon bald stellen sich Gebietsansprüche einer zwielichtigen Nachbarin ein. Der Nachkömmling der ehemaligen Besitzer muß nun vermittelnd eingreifen. Doch die Geschichte endet nicht mit der Schlichtung des Zwists, sondern mündet in einen Monolog eben dieses Erzählers, dessen unauflösbar rätselhafte, weil unartiku-lierbare Ausführungen über das 'Wesen' von Región in den Sätzen kulminieren:

 

-"Sí, se ve que usted no es de aquí, porque está acostumbra-do a trabajar la tierra, sacar su fruto, comprarla y venderla. Pero aquí la tierra no se paga. Aquí se la teme, se la odia y se oculta uno de ella ..."

- "Tan mala es la tierra?

- "Mala, no; hostil."

 

Da ist des weiteren Una tumba (deutsche Übers.: Ein Grabmal (1989)), ebenso eine der etwas leichter bekömmlichen, wenn auch ähnlich sinistren Erzählungen, die freilich nicht in der wunderschön-'ruinös' illustrierten Aufmachung von 1971 (Editorial Lumen) reproduziert werden konnte, und der einige Kritiker - nicht ganz ohne Berechtigung - eine gewisse Nähe sowohl zur angelsächsischen Ghost-Story als auch zur Raputin-Legende nachsagen.

 

Da ist auch Numa - una leyenda (1978 - deutsche Übers.: Numa (eine Sage) (1989)), vielleicht so etwas wie ein Schlüssel zum gesamten Región-Zyklus Benets. Denn hier begegnet uns der geheimnisvollvoll-mythische und sicher von einem antiken, italischen Diana-Kult inspirierte Numa, der die zentrale Berggegend Regións namens Mantua bewacht, sprich jeden tötet, der sein archaisches Heiligtum betritt. In anderen Texten erscheint er nur als bedrohlicher Schatten. Doch diese Erzählung offeriert uns erstmals seine Perspektive aus nächster Nähe. Allerdings, - und das ist Benet pur - Numa bleibt auch hier ein Rätsel. Ein Mythos - wir sprechen jetzt nicht von Barthes'schen Alltagsmythen - muß sich eben selbst tragen und bewahren. Und diese meisterhafte Konstruktion mythopoetischer Strukturen ist eben ein Aspekt (und nicht der einzige!) des Faszinosums Benet, in Numa - una leyenda aber auch anderswo ...

 

Schließlich finden sich in den Cuentos completos auch einige 'verwaiste' Kinder und natürlich sämtliche 'cuentos' aus den Sammlungen Sub rosa (1973) und 5 narraciones y 2 fábulas (1972 - allerdings ohne die Fabeln). Was kann man in der notwendigen Kürze über diese beeindruckende Prosa sagen? Vielleicht nur auffordern, sie zu lesen; z.B. wie der weise Professor Canals in Syllabus allmählich in Wahnsinn gerät, als sich eine unbekannte und verschwiegene Gestalt in die letzte Reihe des Hörsaals setzt; eine Allegorie jener unergründlichen 'incertidumbre', die Benet in den Tiefen jeden menschlichen Wissens erblickt.

 

Den Zugang über eine ganz andere, die humoristische Pforte Benets verschaffen die neuaufgelegten Trece fábulas y media von 1981, die durch eine damals noch nicht vorliegende decimocuarta ergänzt worden sind.

 

Humor ist vielleicht nur die eine Seite dieser Kürzest-geschichten, irgendwo zwischen Borges und Tausendundeiner Nacht. Die andere Seite ist die wohl nirgends bei Benet so deutlich hervortretende, sich selbst reflektierende Sprach-architekur der Erzählungen. Gleich die erste 'Fabel' hebt in diese Gefilde ab: Ein Händler fordert seinen Gehilfen auf, nach seinem destino (dem des Meisters) zu suchen. Er sucht ein ganzes Leben lang und wird natürlich nicht fündig. Geistreicher kann man wohl keine Story um ein einzelnes Wort flechten. In der zweiten Fábula tritt zum Sprach- ein Ver-wechslungs(schau)spiel unter Einknüpfung mathematisch-logischer Denkmuster, die mit einigem Schmunzeln - vielleicht, vielleicht aber auch nicht - ad absurdum geführt werden. Die Décima y décima bis schließlich verweist uns auf ihre eigene Illusionsschöpfung: Sie hat zwei Ausgänge, die beide im gleichen Satz münden: "No podía ser de otra manera."

 

In keiner der Fábulas findet sich - und dies ist in diesem Fall kein Makel - die in der übrigen Benet-Prosa so charakteristische komplexe Syntax. Die virtuos-lyrischen Schachtelsätze und Einschübe eines Romans wie etwa Saúl ante Samuel - eine bewußte Technik zur Kolonisierung narrativen Brachlands - wird der Leser hier schwerlich vermissen. Die Fábulas leben aus der Präzision von Gedanke und Ausdruck und vom Überraschungsmoment der Pointe. Auch fehlt der tiefe geschichtsphilosophische Pessimissmus, der den Hintergrund für die düstere Poesie der Romanzyklen zu schaffen pflegt. An seine Stelle tritt eine helle, transparente, ja im wörtlichen Sinne fast aufklärerisch anmutende Textur, die nicht selten parodistische, ja sogar - von Benet eigentlich verbrämte - satirische Züge aufweist, und am ehesten an einige leichtfüßige Passagen des auch ins Deutsche übersetzten Romans En la penumbra (Im Halbschatten) erinnert. So liest sich die Decimotercera wie eine bissige 'Burleske' auf Ideologien und mißverstandene Jünger-schaften: Nachdem ein Jünger ein Leben lang immer den Ratschlägen seines Meisters gefolgt ist - einmal eben diesen zu folgen, ein anderes Mal das genaue Gegenteil zu tun - liegt er gescheitert und verarmt im Totenbett. Als der Meister ihm schließlich die Augen schließt, summiert dieser: "Cuanto más canalla es la doctrina, mejor el discípulo."

 

Kurz, auch die Trece fábulas sind ein Leckerbissen, der jedem hier wärmstens ans Herz gelegt werden soll; und vorallem: Die Fábulas sind das wahrscheinlich einzige Werk Benets, das sich auch als Gute-Nacht-Lektüre eignet.

 

Juan Benet: Cuentos completos. Madrid, Alfa-guara, 1998, 478 Seiten, 3.200 Pts.

Juan Benet: Trece fábulas y media y decimocuarta. Madrid, Alfaguara, 123 Seiten, 1.400 Pts.