Aus der Not eine Tugend gemacht

Trotz geringer finanzieller Mittel blüht das brasilianische Theater

von Stefan Kunzmann

Roberto Oliveira hat es sich in seiner Badewanne gemütlich gemacht und begonnen, Kartoffeln zu schälen, um sie anschließend zu verspeisen. Die Wanne steht inmitten eines mit Büchern und allen nur denkbaren Utensilien gefüllten, schwach beleuchteten Kellerraumes. Das Zimmer gleicht einem Refugium, in das die Zuschauer auf ihren Bänken miteinbezogen sind.

 

Oliveira ist Herr Paul in Tankred Dorsts gleichnamigem Stück. Camilo de Lelis wurde für seine Inszenierung im kleinen Teatro de Arena von Porto Alegre mit einem der wichtigsten Theaterpreise der Region, dem Premio Açorianos, ausgezeichnet. Roberto Oliveira erhielt den Preis für die beste Hauptrolle und die Tochter des Regisseurs, Renata de Lelis, wurde als beste Nebendarstellerin prämiert. Dies war auch ein großer Erfolg für das 1967 in der südbrasilianischen Gaucho-Metropole gegründete Theater, das während der Militärdiktatur lange Zeit als einziges oppositionelles Theater in Brasilien galt, bis es 1979 geschlossen wurde. Erst 1991 konnte die Bühne wiedereröffnet werden.

 

Camilo de Lelis ist erfahren in der Bearbeitung von Stücken zeitgenössischer deutscher Autoren. Schon vor einigen Jahren hat er Dorsts Merlin inszeniert. Während Herr Paul nach zehn Monaten noch immer läuft, hat der Regisseur inzwischen Herbert Achternbuschs Der Stiefel und sein Socken auf die Bühne gebracht. Auch dieses Mal wird die Inszenierung finanziell vom Goethe-Institut in Porto Alegre mitgetragen.

 

0 estranho Senhor Paulo, so der portugiesische Titel von Tankred Dorsts Stück, war so aufsehenerregend, daß sogar der Autor höchstpersönlich angereist kam. Die Geschichte des Lebenskünstlers Paul, der seine Wohnung in einer alten Fabrik vor skrupellosen Eigentümern und Immobilienhaien partout nicht räumen will und zur Verteidigung seiner vier Wände sämtliche Register des zivilen Ungehorsams zieht, hatte schon im Münchner Residenztheater Kritiker und Publikum begeistert. Hatte man damals allerdings mit einem Sofa als letzte Fluchtburg des schrulligen Helden vorliebgenommen, dient ihm in Porto Alegre eine Badewanne als letzte Bastion. Das Stück über den an Gontscharows Oblomow erinnernden Individualisten ist nicht nur als Aufruf zur Zivilcourage gegen Immobilienhaie und als Hymne an den passiven Widerstand zu sehen. Im deutschen Kontext spiegelte es darüber hinaus auf das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen an. Auf südamerikanische Verhältnisse übertragen wird vor allem eines deutlich: der heimliche Sieg von Fantasie und Individualismus über die von Habgier und Ausbeutung bestimmte soziale Realität. Parallelen zu dem kolumbianischen Film Die Strategie der Schnecke werden deutlich und der Einbruch jener oft zitierten "magischen" Dimension in den gesellschaftlichen Alltag darf auch nicht fehlen.

 

Die Inszenierung macht gleich einen Unterschied zum deutschen Theater deutlich. Bleibt bei aller inszenierten Ungezwungenheit und noch so anarchischen Stücken in Deutschland der Eindruck bestehen, man habe es mit einem "Problemstück" zu tun, wird in Brasilien Theater zum Spektakel und Feuerwerk der Spielfreude. "Unser Theater führt uns oft bis an den Rand der körperlichen und psychischen Erschöpfung, denn wir arbeiten viel mehr mit Emotionen als in Deutschland", gibt die Schauspielerin und Regisseurin Leticia Liesenfeld zu verstehen, die sich als Besucherin des diesjährigen Berliner Theatertreffens bestätigt sah. Camilo de Lelis pflichtet ihr bei: "Während man in Deutschland Theater eher mit dem Kopf macht, macht man es in Brasilien mehr aus dem Bauch heraus. Dies ist ein Punkt, den ich auch jedes Mal bei der Bearbeitung deutscher Stücke berücksichtigen muß. Zudem sind Vorstellungen, die länger als zweieinhalb Stunden dauern, in Brasilien undenkbar."

 

Der starke Einfluß von Pantomime und Commedia dell'arte auf das südamerikanische Theater als auch der Ursprung aus dem Straßentheater ist nicht nur an der Arbeit der freien Gruppe Terreira da Tribu mit ihren gesellschaftskritischen Aufführungen zu erkennen, sondern auch in der Inszenierung von sechs Episoden aus Boccaccios Decamerone am Teatro de Straganza. Und das Stück wurde zum Publikumsrenner. Nach Monaten waren die Vorstellungen immer noch ausverkauft. Roberto Oliveira trat auch hier wieder in einer Hauptrolle auf. Der Schauspieler hat den Durchbruch geschafft. Vor ein paar Jahren mußte er noch zwischen den Proben und Vorstellungen seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer und Kellner verdienen. Inzwischen führt er selbst Regie in einem Projekt, das gleich drei Stücke des brasilianischen Dramatikers Plinio Marcos vereinigt. Im ersten Teil, Navalha na carne (Messer im Fleisch), der Ende Juli im Teatro de Arena Premiere hatte, werden Szenen einer Familie zwischen Prostitution und Gewalt in den Favelas einer brasilianischen Großstadt dargestellt. Die 70 Zuschauer müssen dabei hinter Bretterverschlägen Platz nehmen und verfolgen das Geschehen auf der kleinen Bühne durch enge Sehschlitze, die an die Sklaventransporte der Kolonialzeit erinnern.

 

"Der Wechsel vom Schauspieler zum Regisseur ist oft fließend. Das brasilianische Theater ist viel mehr an den Schauspielern orientiert als das deutsche Regietheater. Die Regisseure spielen meistens noch selbst und die Schauspieler führen einzeln oder im Kollektiv Regie", stellt Leticia Liesenfeld fest. "Dies ist jedoch oft auf die schlechte finanzielle Situation der Theater zurückzuführen. Europäische und besonders deutsche Verhältnisse sind für uns ein Traum. Wir sind zumeist abhängig von privaten Sponsoren."

 

In den wenigen großen Häusern, wo Stars aus dem Fernsehen auftreten oder renommierte Regisseure wie Gerald Thomas arbeiten, sind die Eintrittspreise für den Durchschnittsverdiener unerschwinglich. "Nur wenige Theater bekommen staatliche Subventionen und wenn, dann fallen diese spärlich aus. Viele Schauspieler sind gezwungen, anderen Tätigkeiten nachzugehen oder fürs Fernsehen zu arbeiten", so Lutti Pereira, der Direktor des Teatro de Arena. Pereira selbst spielt die Hauptrolle in Der Stiefel und sein Socken.

 

Neben Achternbusch und Dorst werden auch Stücke von Beckett, Ionesco, Tabori und Heiner Müller gespielt. Werke aktueller brasilianischer Autoren sieht man dagegen relativ selten. In den letzten Jahren fand die Renaissance eines Klassikers des modernen brasilianischen Theaters, Nelson Rodriguez, statt. Dies bedeutet auch eine wiedergewonnene Orientierung an sozialkritischen Themen. "Es mangelt heute an brasilianischen Dramatikern, die wirklich Erfolg haben", stellt Lutti Pereira fest. "Viele schriftstellerische Talente ernähren sich mit dem Schreiben von Telenovelas."

 

Zur Zeit der Präsidentschaft von Collor de Mello wurden den Theatern wie auch der Filmproduktion die gesamten Gelder gestrichen. Unter dem derzeitigen Staatschef Fernando Henrique Cardoso hat sich die Lage wieder ein wenig gebessert. Inzwischen haben auch die einzelnen Bundesstaaten wie zum Beispiel die südlichste Provinz Rio Grande do Sul eine forcierte Kulturpolitik betrieben und mit der Öffnung von Kulturzentren viel zur Wiederbelebung des kulturellen Lebens beigetragen. Daß der Mangel an öffentlichen Geldern die kreativen Geister nicht daran hindert, über die Landesgrenzen hinaus orientiertes und hochqualitatives Theater zu machen, beweisen die zahlreichen Festivals, wie zum Beispiel das alljährlich stattfindende Theaterfestival von Porto Alegre im September oder jene von Curitiba und Canela. "Festivals und Gastspiele sind oft die einzige Möglichkeit, in einem so großen Land wie Brasilien ohne namhafte Kritikertradition überregionale Wirkung zu erzielen", so Isabella Schwab, Kulturfunktionärin aus Rio Grande do Sul. Eines der zahlreichen Gastspiele fand Ende Juli statt, als einige Theater aus Montevideo anläßlich der ersten Mostra do Teatro Uruguayo in Porto Alegre mit Stücken von Brecht, Miller und O'Neill gastierten. Der Eintritt war frei und die Spielstätten bis auf den letzten Platz besetzt.

 

Herr Paul hat inzwischen eine Tournee durch ganz Brasilien hinter sich. Im Oktober war die Inszenierung beim wichtigsten südamerikanischen Theaterfestival in Buenos Aires eingeladen, wo auch Heiner Müllers letzte Regiearbeit, Brechts Arturo Ui, zu sehen war. Auch der Regisseur Camilo de Lelis setzt seine Arbeit im Rahmen der deutsch-brasilianischen Freundschaft fort. Nicht nur mit neuen Inszenierungen, sondern auch mit einem mehrmonatigen Besuch in Berlin als Gast des Goethe-Instituts. In der Zwischenzeit feiert sein Stiefel und sein Socken in der brasilianischen Heimat einmal mehr Triumphe.