Goldener Bär für Brasilien

Central do Brasil und andere lateinamerikanische und iberische Beiträge auf den 48. Internationalen Filmfestspielen von Berlin

von Sonja Hofmann

Der lateinamerikanische Film war im Wettbewerb der 48. Berliner Filmfestspiele wie auch im letzten Jahr mit genau einem Beitrag vertreten, wieder mit einem brasilianischen Film. Doch während voriges Jahr der Regisseur Bruno Barreto mit seinem Film O que é isso, companheiro leer ausging, konnte sein Kollege Walter Salles einen vollen Erfolg verbuchen: Am letzten Festivaltag überreichte ihm die Jury für seinen Film Central do Brasil den Goldenen Bären, zudem erhielt die Hauptdarstellerin und in Brasilien sehr populäre Fernanda Montenegro den Silbernen Bären als beste Schauspielerin. Sicherlich eine Überraschung, doch eher für die Presse, die mit dem "Außenseiterfilm" (taz) offensichtlich nicht gerechnet hatte, denn Walter Salles hatte sich während der Vorführungen seines Films bereits von dem begeisterten Applaus des Publikums überzeugen können und zeigte sich schon im Verlauf des Festivals sehr zufrieden.

 

Central do Brasil ist nach Terra Estrangeira der zweite Spielfilm von Walter Salles und kreist wie dieser um die Themen Migration und Identitätssuche. Fernanda Montenegro spielt die ehemalige Lehrerin Dora, die sich in der Bahnhofshalle von Rio de Janeiro ihren Lebensunterhalt damit verdient, für einen Real Briefe für Analphabeten zu schreiben. Abends in ihrer kleinen Vorstadtwohnung nimmt sie die Briefe gemeinsam mit ihrer Freundin und Nachbarin Irene (Marilia Pêra) auseinander; ein Großteil davon landet im Papierkorb oder in einer Schublade. Eine Schublade voller Geschichten und eine davon wird Doras Leben entscheidend beeinflussen. Eines Tages bricht in die Routine aus Bahnhof, überfülltem Vorstadtzug und Wohnung ein Neunjähriger namens Josué (Vinicius de Oliveira) ein. Gerade noch hat seine Mutter Dora einen Brief an den Vater Josués diktiert, der im fernen Nordosten Brasiliens lebt und seinen Sohn, den er nie gesehen hat, kennenlernen soll, da wird sie vor den Augen Doras Opfer eines Unfalls und Josué bleibt allein zurück. Dora, von Fernanda Montenegro als unwirsche, gleichgültige und so gar nicht liebenswerte alternde Dame gespielt, versucht zunächst egoistisch, den Kleinen loszuwerden und an eine Adoptionsstelle zu verkaufen. Doch schließlich machen sie sich gemeinsam auf die Reise in den Nordosten. Eine bewegende Reise, die die Protagonisten in sparsamen Bildern ganz langsam zueinander führt und für jeden von ihnen die Suche nach der eigenen Identität darstellt, so wie sie auch für das Land Brasilien die Suche nach seinen Wurzeln bedeutet. Mit den überragenden Hauptdarstellern, die es murrend und streitend schaffen, die Sympathien der Zuschauer auf sich zu ziehen, ist dieser Film einer der schönsten des Festivals.

 

Einen weiteren brasilianischen Film gab es im Panorama der Festspiele zu sehen: Sergio Rezende ließ sich von Euclides da Cunhas Os sertões und Mario Vargas Llosas La guerra del fin del mundo inspirieren und adaptierte das Thema um den Krieg von Canudos und das Dorf Belo Monte, das der messianische Ratgeber Antônio, Prediger gegen die gerade errichtete Republik, 1892 gründete, zu einem knapp dreistündigen Geschichtsdrama. Für Rezende, der in einer von Jesuiten geleiteten Schule aufwuchs, repräsentiert Antônio Conselheiro das für Brasilien äußerst wichtige Thema der Religion und katalysiert ein tiefes Gefühl im brasilianischen Volk. Guerra de Canudos hat in Brasilien zwar gute Kritiken erhalten, doch der Film begnügt sich mit der Darstellung der vier Feldzüge der Republik gegen Belo Monte und einer fiktiven Liebes- und Familiengeschichte, während er die sozialen Elemente, z.B. den interessanten Versuch der Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie in Canudos, völlig außen vor läßt. Wie dem Presseheft zu entnehmen ist, ging es bei dieser größten nationalen Produktion aller Zeiten auch vor allem um visuelle Qualitäten, die viele Zuschauer ins Kino locken sollen... Den am Thema Interessierten sei besser die Lektüre der genannten Autoren geraten.

 

Neues aus Argentinien

 

Neben Brasilien war auch Argentinien mit gleich drei Produktionen auf der Berlinale vertreten. Im Panorama präsentierte Daniel Burman sein Spielfilmdebüt, basierend auf einer Kurzgeschichte, die er vier Jahre zuvor verfaßte. Un crisantemo estalla en Cincoesquinas spielt in einem südamerikanischen Land um die Jahrhundertwende. Erasmo (José Luis Alfonso), als Kind in den Bürgerkriegswirren bei der indianischen Amme vergessen und von ihr großgezogen, bricht auf, den Mord an seiner Pflegemutter zu rächen. Opfer seines (in Chrysanthemengebinden versteckten) Sprengstoffanschlages wird der Patrón 'El Zancudo', Staatsoberhaupt des Landes, der sich als Mörder seiner Amme erwiesen hatte und auch für zahlreiche andere Verbrechen verantwortlich zeichnet. Die individuelle Geschichte von Erasmo versinnbildlicht dabei im häufigen Wechsel von Realität und Imagination die Urkonflikte der Geschichte Lateinamerikas. Ein interessantes Erstlingswerk, das jedoch mit zu viel klischeebeladener Symbolik überfrachtet wurde.

 

Ein weiterer Vertreter der jungen argentinischen Filmgeneration, Gregorio Cramer, debütierte mit seinem Spielfilm im Internationalen Forum des Jungen Films. Ein Land am Rande der Welt, die endlose Leere und Weite Patagoniens, bilden den Rahmen, skurrile Typen am Rande der Gesellschaft die Protagonisten in Invierno mala vida. Gregorio Cramer, dessen Familie aus Patagonien stammt, arbeitete vier Jahre lang an verschiedenen Fassungen des Films und fügte im letzten Jahr zahlreiche groteske Elemente ein, die den Film zu einem absurden Roadmovie machen. Der Protagonist Valdivia (Ricardo Bartis) wankt zumeist trunken durch die Gegend, lebt von mysteriösen Gelegenheitsjobs und träumt von einem goldenen Schaf. Da erhält er von einem gewissen Herrn Ramenfort den Auftrag, ihm ein solches zu beschaffen. Die Suche nach dem Schaf in der windigen Ödnis Patagoniens ist von illusorischen Traumsequenzen durchsetzt. Eigentlich passiert nicht viel in diesem Film, doch jede kleine Begebenheit wird zum grotesken Spiel um Schein und Wirklichkeit.

 

Der in Buenos Aires lebende bolivianische Regisseur Marcos Loayza präsentierte im Panorama die Weltpremiere seines Films Escrito en el agua. Loayza studierte an der Hochschule für Film und Fernsehen in San Antonio de los Baños auf Cuba und drehte 1995 seinen ersten Spielfilm Cuestión de Fe, für den er verschiedene Auszeichnungen erhielt. Escrito en el agua ist die Geschichte um den Jugendlichen Manuel (Mariano Bertolini), der mit seiner Familie in Buenos Aires lebt und meistens im Internet surft, wenn er nicht seine Mutter auf einer Fototour durch die Straßen der Hauptstadt begleiten soll. Sein Vater, ein leitender Ingenieur, nimmt ihn mit auf eine Geschäftsreise aufs Land, wo auch der Großvater lebt, der den Jungen mit Anekdoten aus dem Spanischen Bürgerkrieg zu beeindrucken versucht. Auf seinen Streifzügen um den nahegelegenen See begegnet Manuel der gleichaltrigen Clara, die ihn in die Liebe einführt, aber auch mit den Lügen der Erwachsenenwelt konfrontiert. So muß Manuel entdecken, daß sein Vater in einen Umwelt-Skandal seiner Firma verwickelt ist, der für einen Arbeiter tödliche Folgen hatte und den er nun verharmlosen soll. Auch die Krigsveteranengeschichten des Großvaters werden von Manuel letztendlich entlarvt. Behutsam und mit ruhigen Bildern zeigt Loayza uns den ernüchternden Weg des Erwachsenwerdens und zeichnet ein Familieninnenleben, das erstaunlich authentisch wirkt.

 

Beiträge von der Iberischen Halbinsel

 

Spanien war mit vier Produktionen an der Berlinale beteiligt. Neben Abre los ojos vom Jungfilmer Alejandro Amenábar, der mit seinem ersten Spielfilm Tesis 1996 auf der Berlinale debütierte und nun einen Film über die Schilderungen eines 25jährigen aus der psychiatrischen Abteilung eines Gefängnisses präsentierte, verdient das Erstlingswerk von Ray Loriga, La pistola de mi hermano, besondere Beachtung. Ray Loriga liebt Godard und die Nouvelle Vague, hat die Kamera bei Almodóvar geführt und ist eigentlich Schriftsteller. Als er das Angebot erhielt, aus seinem vierten Roman (Caídos de cielo) einen Film zu machen, schrieb er einige Dialoge neu, da er es langweilig fand, zweimal dasselbe zu schreiben.

 

Diese Dialoge werden oft zu Monologen der Protagonisten, die sich Gedanken machen über Leben, Liebe und Tod. Es geht um einen 16jährigen (Daniel González), der mit seinem Bruder herumhängt, weil er nichts zu tun hat. Aber er hat eine Waffe, mit der er einen Supermarktwachmann umlegt, da dieser ihn provozierte; er klaut daraufhin einen Mercedes und haut samt dem darin sitzenden Mädchen ab, die das im übrigen viel besser findet, als nach ihrem gescheiterten Selbstmordversuch mit den Eltern nach Hause zu fahren. Zu der Musik von Sonic Youth begeben sie sich auf eine ausweglose Reise, auf der Flucht vor einer Welt, an deren Sprache und Rhythmus sie leiden und in der sie Rollen spielen, für die sie sich nicht geschaffen fühlen. Es gibt für sie keine Umkehr, denn zurückzukehren wäre schlimmer, als zugrunde zu gehen ("volver es peor que perderse").

 

Einer der renommiertesten Regisseure des katalanischen Films, Ventura Pons, zeigte im Panorama seinen neuen Film Carícies, einen Episodenfilm, der elf Begegnungen in derselben Nacht in einer Großstadt schildert. In jeder Episode sehen wir zwei Menschen im Dialog und folgen einer der Personen in die nächste Episode, unterbrochen von Aufnahmen nächtlichen Großstadtverkehrs in Zeitraffer. Keinem der Paare gelingt dabei eine Berührung, eine Kommunikation durch Zärtlichkeit, bis wir in der letzten Episode wieder am Ausgangspunkt angelangt sind.

 

Gleiche Uhrzeit, in einer Nachbarwohnung. Hier finden schließlich zwei Menschen das, was auch all die anderen Personen sich erhofft hatten, einen Weg der Verständigung, einen Hauch von Zärtlichkeit. Und wenn die Kamera sich jetzt von den beiden abwendet, um in die Anonymität der Großstadt einzutauchen, zeigt sie uns nicht mehr hektische Bewegungen von Autos und Straßenbahnen, sondern Menschen, die in Zeitlupe durch die verregneten Straßen gehen... Aus Portugal kam Fernando Vendrell zur Berlinale und beschenkte das Festival mit seinem Regiedebüt Fintar o destino, einem Fußballfilm von den Kapverdischen Inseln. Mané (Carlos Germano), ehemals gefeierter Fußballspieler von Mindelo, S. Vicente, ist fünfzig und seiner Arbeit in einer kleinen Taverne überdrüssig. Während des Trainings der Jugendmannschaft erkennt er sich in dem talentierten Kalu wieder. Er selbst hatte einst die Chance, als Torwart im portugiesischen Fußballclub Benfica-Lissabon zu spielen, nicht wahrgenommen. Der Besuch des Cup-Endspiels in Lissabon stellt nun für ihn die Verwirklichung eines Traums dar... Fintar o destino ist in einem langwierigen Produktionsprozeß entstanden. Vendrell stieß 1990 auf den Kapverden auf Manés Geschichte und kehrte mehrmals dorthin zurück, lernte einen der Kreol-Dialekte und suchte die kapverdischen Schauspieler aus - so auch die Protagonisten Carlos Germano und Betina Lopes, die im Film Manés Frau Lucy spielt. Beide sind Sänger und Musiker von den Kapverden, und ihre Musik ist in den Film eingegangen. Zudem bildet der große Emigrationsprozeß - mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt im Ausland - einen wichtigen Bestandteil dieser kapverdischen Geschichte. Doch vor allem um eines ging es dem Regisseur: daß man sich verweigern muß, das Träumen aufzugeben...