'Tradition' und Barbarei

Ein Gespräch mit Rodolfo Mederos

Übersetzung: Gunnar Nilsson

Wenn von Tango die Rede ist, denkt man meist an Carlos Gardel, Astor Piazzolla oder das Sexteto Mayor. Doch neben diesen populären Vertretern existiert eine Reihe jüngerer Interpreten und Komponisten, die den Tango behutsam in die Zukunft tragen wollen. Ihr vielleicht wichtigster Vertreter ist Rodolfo Mederos. Bislang in Europa noch ein Geheimtip der wachsenden Tangogemeinde, ist er dabei, langsam ein größeres Publikum auf sich aufmerksam zu machen. Dazu dürften sicherlich auch seine umjubelten Kölner Konzerte im vergangenen Sommer beigetragen haben. Anläßlich der letzten Triennale trat er mit Daniel Barenboim und Héctor Console in der Philharmonie auf und beeindruckte mit einem exklusiven Soloauftritt im Kunstsalon, der vom WDR aufgezeichnet wurde. Für Matices nahm er sich trotz eines straffen Programms die Zeit, über ein fast 'typisch' argentinisches Thema zu sprechen: 'Tradition und Barbarei'. Mit Mederos unterhielten sich Konrad Hamacher, Karl Müller und Gunnar Nilsson.

 

MATICES: Ihr Konzert mit Barenboim in der Philharmonie und ihr Soloauftritt im Kunstsalon zog ein großes Publikum an. Die Konzerte waren ausverkauft. Es scheint, daß Tango zur Zeit groß in Mode ist ...

 

MEDEROS: Ja sicher! Vorallem Piazzolla ist groß in Mode. Aber ich weiß nicht, ob man ihm damit etwas Gutes tut. Eine Mode hat für mich immer etwas leicht Frivoles. Dem Modischen haftet stets auch das Oberflächliche an. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber wieviel Ernsthaftes ist in einer Mode? Eine Mode ist ein Massenphänomen. Zwar führt sie viele Menschen an eine Sache heran. Aber sie führt eben all jene heran, die sich wahrscheinlich ohne die Modewelle der Sache nicht angenähert hätten. Und dieser Umstand ist genau das, was ich mit Frivolität und Oberflächlichkeit meine. Wenn man zu mir sagt: "Maestro, Sie sind ja ganz groß in Mode", dann antworte ich: "Ja, leider!" Man sagt zwar manchmal, daß modisch zu sein, eine Tugend sei. Ich sehe das aber nicht so.

 

MATICES: Wenn man an Piazzolla denkt, dann denkt man aber doch auch an das, was er geleistet hat ...

 

MEDEROS: Naja, die berühmte Frage: Ist Piazzolla der einzige? Kommt nach Piazzolla nichts mehr? Ich sehe Piazzolla allerdings als ein musikgeschichtliches Resultat an. Und aus einem (Zwischen-) Resultat folgt auch eine Konsequenz. Piazzolla ist ein sehr gutes Resultat. Und auf dieses Resultat folgen weitere Resultate: Bardi, Piarolas, Cobián ...

 

MATICES:Es scheint, daß all diese Musiker in der Folge von Piazzolla herausgekommen sind.

 

MEDEROS:Ja, das stimmt. Aber alle glauben, daß alles mit Piazzolla angefangen hat.

 

MATICES: Stimmt das denn nicht?

 

MEDEROS: Ich habe nicht mit Piazzolla angefangen!

 

MATICES: Aber war denn Piazzolla nicht so etwas wie ein historischer Knoten- und Ausgangspunkt? Sind denn nicht Leute wie Mossalini erst in seinem Fahrwasser aufgetaucht?

 

MEDEROS: Nein, das ist ein Irrtum! Ich bin bereits vorher aufgetaucht. Die Leute bringen mich immer wieder mit Piazzolla in Verbindung, weil ich aus Buenos Aires komme und Bandoneon spiele. Aber ich habe schon Tango gespielt, bevor ich auf Piazzolla traf. Es stimmt natürlich, daß Piazzolla sehr früh in mein musikalisches Leben eintrat.

 

Ich sehe das so: Die jungen Leute heute wissen nicht mehr, was vorher war. Ich weiß das noch sehr gut. Ich habe schließlich mehr oder weniger in der gleichen Epoche wie Piazzolla gelebt. Jemand, der heute Tango spielt, denkt, alles habe mit Piazzolla angefangen. Aber das stimmt nicht.

Etwas ähnliches geschieht mit unserem Geschichtsbewußtsein allgemein. Die argentinische Militärdiktatur ist nicht nur für 30.000 Verschwundene verantwortlich. Sie forderte auch noch etwas anderes: Sie sorgte für das Verschwinden unseres historischen Gedächtnisses. Die junge Generation weiß nichts mehr von der Vergangenheit. Und sie will es auch nicht.

 

Dazu gesellt sich ein weiteres Phänomen: Es entstand eine durch die Industrie auf perverse Art manipulierte Welt, eine Welt, die die Kultur manipuliert, den Konsum, und eine Welt, in der Vermassung weit mehr bedeutet als der Wert des Individuums. Durch diese Industrie hat sich auf der ganzen Welt eine Musik verbreitet, die nur für die pure Unterhaltung der Jugend gedacht ist. Es ist ein Markt für sogenannte 'junge Musik' entstanden, die auch noch von der Regierung unterstützt wird, weil sie hilft, die Vergangenheit zu vergessen. Der Tango und ähnliche Formen der Volkskultur bleiben bei solchen Vermarktungsstrategien natürlich außen vor.

 

Durch diese Entwicklung sind wir in Argentinien heute bei einer jungen Generation angelangt, die kaum noch weiß, wer sie eigentlich ist. Sie weiß einfach nicht mehr, wer Cobián oder Bardi ist. Sie weiß es nicht und es interessiert sie auch nicht. Das Ganze ist ein deutliches Beispiel für die Durchdringung durch eine fremde Ideologie, die nicht die unsere und die auch nicht die beste ist.

 

Einige Kritiker haben behauptet, daß meine Musik wie ein Bindeglied zwischen der jungen Generation und dem Tango wirke. Sie bezogen sich dabei auf die Zeit, als ich mit Musik-Gruppen spielte, die eine gewisse Tendenz zum Rock hatten. Meine Gruppen damals bestanden aus Schlagzeug, E-Baß, E-Gitarre, Bandoneon und manchmal auch Geige. Aber diese Experimente der 70er Jahre langweilen mich mittlerweile. Es mag sein, daß durch diese Musik einige wenige einen erneuten Zugang zu unseren musikalischen Wurzeln fanden. Ich weiß es nicht. Aber wie dem auch sei, die Masse meiner Schüler - wie sie wissen, bin ich auch Maestro in einer Musikschule - wollen nichts anderes als Piazzolla spielen, weil sie nichts anderes kennen. Dadurch wird mir immer wieder klar, daß es immernoch kein Bindeglied gibt.

 

MATICES: Gibt es überhaupt Musiker, die nach Wurzeln suchen, die tiefer als Piazzolla liegen?

 

MEDEROS: Ich will nicht überheblich sein. Aber ich glaube, es gibt niemanden! Es gibt Musiker, die versuchen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie rennen von einem Spektakel zum anderen und schauen, was am meisten Geld einbringt. Verstehen Sie mich richtig! Ich versuche, ehrlich zu sein. Die Situation befriedigt mich keineswegs. Ich wünschte mir ein kreativeres Klima. Aber so wie es ist, langweilt es mich. Mir erscheint das Ganze wie ein Puppenspiel, in welchem nur Kopien von Piazzolla gezogen werden. Kreativität gibt es kaum. Alles bewegt sich wie in einer Einbahnstraße, in der Einbahnstraße Piazzollas. Ich sage Einbahnstraße, denn Piazzollas Musik ist geschlossen wie die Musik von Bach, wunderschön aber geschlossen. In gewisser Weise kann man sagen: unfruchtbar, denn sie endet mit Piazzolla, Variationen sind kaum vorstellbar. Mit dem alten Tango bis in die 40er Jahre war das anders. Der war fruchtbar, geeignet für weitere Bearbeitungen. Aber nicht Piazzolla! Welche Ironie!

 

Deswegen sage ich, daß es den eigenen Tod bedeutet, wenn man sich von den Fangarmen dieser Musik einkreisen läßt. Man muß etwas anderes machen. Aber meine Generation denkt nur an ihren Vorteil und so kopiert man weiter Piazzolla, weil es eben Mode ist. Das ist eine Haltung, die ich schon fast als 'musikfeindlich' bezeichnen würde.

 

MATICES: Und was ist mit Dino Saluzzi?

 

MEDEROS: Saluzzi ist ein Ausnahmefall! Saluzzi ist der einzige Musiker, dessen besondere Qualitäten ich anerkenne.

 

MATICES: Saluzzi ist aber auch ein schwieriger Musiker. Es ist nicht eben leicht, ihm zu folgen.

 

MEDEROS: Das stimmt! Aber jede Kunst ist irgendwie ein Abenteuer und nicht immer ein gefälliges. Ich glaube nicht, daß Kunst gefällig sein sollte, zumindest nicht zu 100%. Kunst muß Veränderungen provozieren. Wenn jemand ernsthaft Musik hört und danach unverändert hervorgeht, dann taugt die Musik nichts. Irgendwo muß es zu einer Veränderung kommen, zu einem Wechsel, zu einem Anders-Denken. Es gibt natürlich Musik, die dazu da ist, zu gefallen: Filmmusik, Hintergrundmusik usw. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber solche Musik ist harmlos. Sie stört nicht. Wir reden hier von einer anderen Musik. Und die muß auch unangenehm sein können, sie muß auch stören können - schon allein deswegen, weil sie etwas in ihrem Inneren haben muß, das von Grund auf 'anders' ist. Sie muß stören und dem Menschen etwas von seiner Sicherheit nehmen. Der Mensch sucht immer nach mehr Sicherheit, nach einem festen Einkommen, nach einer angemessenen Rente ... so geht es das ganze Leben lang. Aber was wissen wir schon mit Sicherheit? Ich weiß ja noch nicht einmal, wie dieses Interview zuende gehen wird! Alles ist unsicher, außer der Tod. Schönberg sagte einmal, daß in ihm zwei Kräfte wirken würden: Die erste würde ihn antreiben, angenehme Stimulationen zu wiederholen: mit den gleichen Leuten ausgehen, in den gleichen Restaurants essen, zur immer gleichen Zeit aufstehen usw.

 

MATICES: Um mit Casanova zu sprechen: Was gefällt, ermüdet?!

 

MEDEROS: Ja genau! Aber da gibt es auch noch diese ganz andersartige Kraft: Die Suche nach dem Andersartigen. Aber die Andersartigkeit ist auch das Beängstigende, die Angst vor dem Unbekannten. In gewisser Weise suchen wir immer das Bequemste, auch in der Musik und in der Literatur. Aber die Musikindustrie macht, wie ich schon sagte, daraus eine Notwendigkeit. Das heißt, sie benutzt diesen Umstand, um ihre Verkaufszahlen zu erhöhen. Wenn ein Musiker nun etwas schafft, das eben jene Andersartigkeit besitzt, dann muß er damit rechnen, daß die ganze etablierte Welt sich dagegen stellt, weil das Andersartige eben eine Angst vor der Unsicherheit schafft. Manche sind in der Lage, das zu überwinden. Andere überwinden das nie. Sie ziehen sich in das Sichere, in das schon Bekannte zurück. Ich aber glaube, daß gerade im Unbekannten die Herausvorderung liegt. Nur dadurch wächst man.

 

MATICES: Verfeinerter Genuß!?

 

MEDEROS: Sicher! Das Betreten von Neuland bedeutet, oder sollte auch Genuß bedeuten. Ein Genuß aber, der aus purer Sicherheit erwächst, ist ein kindlicher Genuß.

 

MATICES: Ein anderes Thema: In einem Interview haben Sie einmal betont, daß ein Volk, das seine musikalische Tradition verliert, in Barbarei verfällt.

 

MEDEROS: Naja, das Problem ist sehr komplex. Wenn ich von Tradition spreche, meine ich natürlich nicht, daß man an bestimmten Dinge um jeden Preis festhalten soll, daß man immer wieder die gleiche Musik hören soll. Ich meine etwas Grundlegenderes. Es ist schwer, das genau zu erklären. Zunächst - jedes Volk, das Einflüsse von fremden Kulturen erfährt, wird zumindest teilweise bereichert, jede Hybridisierung ist grundsätzlich fruchtbar. Es gibt nichts 'Reines'. Im Gegensatz dazu gibt es aber bestimmte Erscheinungsformen fremder Kulturen, die die eigene überdecken, ja sogar verneinen und ablehnen. Sie versuchen die althergebrachte Kultur völlig zu ersetzen. Es kommt also dazu, daß Menschen ihrer eigenen Kultur den Rücken kehren und eine andere übernehmen, eine andere, die nicht ihre eigene ist. Das ist in Lateinamerika, wo viele Kulturformen auf Kolonialismus zurückgehen, immer wieder passiert. Man trifft hier häufig auf die Knechtschaft der Imitation. Künstler versuchen die Kunst, die aus den Hegemoniezentren kommt, zu imitieren. Das meine ich mit Knechtschaft. Ich glaube, Rock ist bis zu einem bestimmten Punkt ein solches Phänomen.

Das, was ich über den Verlust der traditionellen Wurzeln und den Fall in die Barbarei sagte, bezog ich natürlich nur auf einen lateinamerikanischen Kontext. Wie ich aber erfahren habe, ist Deutschland auch durch US-amerikanische Musik überschwemmt worden. Tja, in den Wechselstuben steht auf den Tafeln auch hier das Dollarzeichen ganz oben. [lacht] Klar, es ist mehr oder weniger überall gleich: immer das selbe Hegemoniezentrum. Die Frage ist nur, was macht jedes einzelne Land in dieser Situation. Auf der anderen Seite geht es natürlich auch nicht an, die einzelnen Kulturen voneinander abschotten zu wollen. Und im Zeitalter des Internet und der anderen elektronischen Medien werden die regionalen und lokalen Eigenheiten zunehmend verdrängt werden. Das ist schon beängstigend.

 

MATICES: Gibt es - abgesehen von Piazzolla - für Sie noch andere Vorbilder, z.B.aus der klassischen Musik?

 

MEDEROS: Innerhalb des Tango steht da natürlich immer noch Osvaldo Pugliese, vielleicht auch Horacio Salgán. Aber ich habe mich auch von anderer Musik 'ernährt', von Jazz und auch von Rock. Im Jazz interessierte mich vorallem Free-Jazz. Klassische Musik nimmt bei mir einen ganz ausgezeichneten Platz ein, ich meine die europäische Klassische Musik: Monteverdi, Bach, Stockhausen, Mozart, Beethoven, Mahler, Brahms etc.

 

MATICES: Was halten Sie vom Tango heute? Es gibt ja die berühmte Anekdote über Piazzolla, dem einige Leute vorwarfen, er spiele keinen echten Tango. Er antwortete darauf: "Stimmt, ich mache Musik aus Buenos Aires”.

 

MEDEROS: Piazzolla hat das gesagt, um seine etwas andere Haltung zu rechtfertigen, um den Unterschied zwischen seiner Musik und der herkömmlichen Musik zu unterstreichen. Das ist natürlich eine Verteidigungsstrategie gewesen. Man muß bedenken, daß Piazzolla ständig den Angriffen von Seiten der Vertreter herkömmlicher Musik ausgesetzt war. Er machte eine neue Art Musik und versetzte sich damit in eine riskante Situation. Das ist ganz normal. Wenn einer etwas Neues macht, produziert er Ängste. Die Unsicherheit über das Neue, was man geschaffen hat, erzeugt solche Ängste. Und jeder sucht dann nach Formen des Selbstschutzes. Stravinski ging es so und ebenfalls Columbus oder auch Galileo Galilei. Die Geschichte ist voll mit derartigen Beispielen. Einer macht etwas Neues und das künstlerische, naturwissenschaftliche oder philosophische Umfeld reagiert dagegen.

 

MATICES: Im Falle Piazzolla scheinen die Reaktionen aber extrem übertrieben gewesen zu sein, oder? Man stürzte sich ja quasi mit gezogener Waffe auf ihn. Warum?

 

MEDEROS: Das hängt sicher mit dem Temperament des Porteño zusammen. Ich weiß nicht, was in einer vergleichbaren Situation in z.B. Australien passiert wäre. In Buenos Aires jedenfalls bedeutete der Tango von Piazzolla einen Angriff auf den althergebrachten Tango.

Ich möchte dazu eine Anekdote erzählen. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben. Es war, glaube ich, irgendwann in den 70er Jahren. Piazzolla hatte mit seiner Gruppe im Radio gespielt und verließ gerade den Sender. Draußen wartete eine Gruppe von Leuten, vielleicht haben sie Piazzolla aufgelauert. Unter ihnen befand sich auch ein traditioneller Tanguero. Ich weiß nicht mehr genau, wie er hieß. Dieser Kerl stürzte sich mit Faustschlägen auf Piazzolla. Und die Leute um ihn herum haben mitgemacht. Es gab eine richtige Schlägerei. Ein Photograph, der in einem Baum saß oder irgendwie von einem höheren Gebäude aus beobachtete, hat das Handgemenge fotografiert.

 

Das ist schon beeindruckend. Man sieht daran, mit welcher Leidenschaft die ganze Sache verfochten wurde. Den Leuten ging es einfach unter die Haut, daß sich irgendein 'dahergelaufener Typ' - ich sage das mit Anführungszeichen -, daß irgendein 'dahergelaufener Typ' sich das 'Recht', die 'Freiheit', ja die 'Unverschämtheit' herausnahm, an einer Musik herumzufuchteln, die als dierepräsentative Musik des Volkes aufgefaßt wurde. Das galt einfach als ruchlose Nestbeschmutzung. Und Piazzolla war eben - zum Glück! - ein solch 'ruchloser Nestbeschmutzer'.

 

MATICES: Wie sind Sie mit Piazzolla zusammengekommen?

 

MEDEROS: Ich muß da eine Unterscheidung treffen: Eine Sache ist die Verbindung zwischen der Musik Piazzollas und mir, die andere Sache ist die Verbindung zwischen der Person Piazzollas und mir.

Ich lebte in Córdoba [Argentinien] und studierte Biologie. Nebenbei war ich Musiker in verschiedenen Orchestas Típicas. Eines Tages, ich erinnere mich noch sehr gut, hörte ich eines der ersten Stücke von Piazzolla. Ich war überrascht, ja ganz eigentümlich angeregt. Ich wußte nicht so recht, was ich da eigentlich hörte. Eine ganze Weile vernahm ich dann nichts mehr von Piazzolla. Aber im Unterbewußtsein, in meinem Herzen, blieb das Stück eingeprägt, etwa so, als wenn man irgendeine Hintergrundmusik in einem Restaurant in sich aufgenommen hat, von ihr bewegt wurde, aber nicht mehr genau weiß, was das eigentlich war.

Monate später hörte ich Piazzolla zum zweiten Mal und ich erfuhr erstmalig den Namen Piazzolla. In diesem Augenblick verstand ich, daß mir diese Musik etwas sagt, daß sich in dem musikalischen Code eine Botschaft verbarg. Die Botschaft lautete, daß im Tango von nun an nichts so bleiben könnte, wie es bis dahin war. Und ich folgte dieser Botschaft.

Ein Jahr später, als sich Piazzolla mit seinem Quintett in Córdoba befand, um Radioaufnahmen zu machen, lernte ich ihn kennen. Es war 1960, ich war zwanzig Jahre alt und machte meinen Militärdienst. Ich gab ihm einige der Aufnahmen, die ich mit meinem Octeto Guardia Nueva gemacht hatte, zum Anhören mit. Das waren ziemlich verrückte Aufnahmen, die schon unter dem Eindruck von Piazzollas neuer Ästhetik entstanden waren. Man muß bedenken, daß es in einer Provinzhauptstadt wie Córdoba in den 60er Jahren ziemlich außergewöhnlich war, eine Gruppe aus Timbales, Flöten, elektrischen Gitarren, Bandoneon usw. zusammenzustellen.

 

MATICES: Heute klingt das normal!

 

MEDEROS: Ja, ganz modern! Naja, wie gesagt, wir hatten einige Aufnahmen gemacht und sie Piazzolla vorgeführt. Ich war natürlich wie gelähmt, als ich ihn zum ersten Mal vor mir hatte. Piazzolla aber fragte mich, was mich denn noch in Córdoba halten würde. Ich solle doch nach Buenos Aires kommen. Ich lächelte, aber in Wirklichkeit sog ich dieses 'Angebot' in mich auf. Ich blieb noch eine Weile in Córdoba. Hier war meine Familie und eigentlich wollte ich ja Biologe werden. Wenn ich ein zweites Leben führen könnte, würde ich wahrscheinlich mit mehr Ernsthaftigkeit die Pflanzenanatomie verfolgen. Das war mein Hauptfach. Es hat mich wirklich fasziniert und es fasziniert mich heute noch. Ich machte Biologie, weil sie mich wirklich interessierte. Ich fühlte, daß sie mich in bestimmte Geheimnisse der Welt einführte, die sich mir nicht auf eine andere Weise eröffnen konnten. Aber ich endeckte, daß mich die Musik auch in solch geheimnisvolle Welten entführen konnte.

 

Ich blieb also in Córdoba. Im nächsten Jahr kam Piazzolla wieder, um ein Konzert zu geben. Und er verlangte von den Veranstaltern, daß das Vorprogramm von 'jenem Jungen' bestritten wird: Mederos und seine Gruppe. So war's dann auch. Der Konzertsaal, ein Theater, war voll von Enthusiasten, von Studenten, von Bekannten und Freunden und auch von älteren Herrschaften. Wir spielten. Es war phantastisch! Nach dem Konzert liefen Piazzolla, einige Fans, Freunde und ich durch die Straßen. An einer Straßenecke hielt er an und fragte mich: "Rodolfo, wann kommst Du nach Buenos Aires?" Ich blickte an dem Gebäude der Straßenecke empor. Dort stand ein Schild: 'Fakultät der exakten Wissenschaften'. Das war die Fakultät, an der ich jeden Tag meine Praktika in Biologie, Mineralogie usw. machte. Ich schaute Piazzolla an und sagte: "Astor, und was mache ich mit der Biologie?" Piazzolla war immer sehr offen zu mir. Er sagte mit einer etwas verdeckten Zärtlichkeit: "Laß die Biologie den Biologen. Du bist Musiker!" Zwei Wochen später ging ich nach Buenos Aires.

 

Ich kam allerdings in ein Buenos Aires, das nicht den Anschein erweckte, als ob es mich erwartet hätte. Ich hatte keine Verbindungen, keine Freunde, keine Freundin, nicht einmal etwas zu essen. Es begann also ein langer Weg, der Versuch, meine ökonomische und emotionale Situation wenigstens einigermaßen zu stabilisieren.

 

MATICES: Welches Verhältnis haben Sprache und Musik für Sie? Dadurch, daß Sie z.B. Ihren Stücken einen Titel geben, etablieren Sie ja schon ein gewisses Verhältnis zwischen Sprache und Musik.

 

MEDEROS: Die Musik ist für mich eine mit der gesprochenen Sprache vergleichbare Sprache. Ein vereinigendes Zusammentreffen dieser beiden Sprachen ist durchaus möglich. So gibt ja zum Beispiel Lieder oder auch die Oper. Hier ist das Zusammentreffen offensichtlich. Aber für meinen Teil muß ich sagen, daß mich dieses Zusammentreffen nicht so sehr interessiert. Mich lenkt das eine zu sehr von dem anderen ab.

 

MATICES: Der gesungene Tango ist nicht Ihre Sache?!

 

MEDEROS: Mich faszinieren manche Tango-Texte. Aber wenn ich sie lese, denke ich, sie bestehen auch alleine, ohne Gesang. Ich will damit keineswegs sagen, daß Gesang etwas Schlechtes ist. Aber er zieht mich nicht so an. Wenn ich Musik höre, höre ich Musik. Ich lausche der musikalischen Sprache und dann brauche ich keine andere Sprache, die mir sagt, daß Pferde über die Wiese traben oder ein Unwetter in den Bergen niedergeht. Die Musik kann sich mir durch sich selbst mitteilen. Musik, die zu sehr an außermusikalische Realitäten gebunden wird, erweckt für mich immer den Eindruck einer unterworfenen, versklavten Musik. Ich glaube, Musik teilt sich über sich selbst mit, und sie hat z.B. genau dann Humor, wenn die Töne einzig und allein strikt musikalischen Prinzipien gehorchen. Es gibt natürlich einige phantastische Werke, in denen die Symbiose gelingt. Aber für meine Arbeit interessiert mich das nicht so sehr.

 

Aber zurück zu dem von Ihnen angesprochenen Thema: Um die Wahrheit zu sagen, ist es mir prinzipiell egal, welchen Titel ein Stück trägt. Das ist wie beim Kleiderkauf: Mir gefällt eine Kravatte gut, aber eine ganz andere gefällt mir genauso. Ich habe z.B. das Stück Pumpa meiner Frau geschenkt, so wie man einen Blumenstrauß verschenkt. Sicher hat das Stück auch etwas mit der Dame zu tun, aber nicht durch den Titel.