Plenilunio

Der neue Roman von Antonio Muñoz Molina

von Gero Arnscheidt

In einer Kleinstadt in der andalusischen Provinz hat ein Psychopath ein kleines Mädchen erst sexuell mißbraucht und dann ermordet. Die Aufklärung des Falls wird einem Polizisten schon fortgeschrittenen Alters übertragen, der sich erst kurz zuvor aus Bilbao in seine Heimatstadt hat versetzen lassen, da seine Frau der permanenten Bedrohung durch die Kommandos der ETA nicht mehr gewachsen war und nun trotz des Umzugs in einer Nervenheilanstalt verwahrt wird. Die vielschichtige Handlung, die der Autor nun entspinnt, kann nach dieser Exposition allenfalls in einem Aspekt überraschen: Die Aufklärung des Mordes steht nicht im Vordergrund des Interesses.

 

Vielmehr beginnt für den Inspektor erst einmal die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. Als Kind eines Republikaners, war er nach dem Bürgerkrieg auf Betreiben staatlicher Stellen in die Obhut von Patres gegeben worden, die ihn im Geist der »Bewegung« erziehen sollten. So ist das Verhältnis zum Vater absolut gestört, als der Sohn sich noch zu Lebzeiten Francos entscheidet, ein durchaus systemkonformer Polizist zu werden. Unterstützt, wenn nicht gar angeregt, wird diese Vergangenheitsbewältigung von dem kommunistischen Pater Orduña, der in jenen Jahren - noch auf der »falschen« Seite - für die Erziehung des späteren Inspektors mitverantwortlich war und ihm nun den aus kriminalistischer Sicht widersinnigen Floh ins Ohr setzt, den perversen Mörder an seinem Blick erkennen zu können, was, dies sei nur am Rande erwähnt, zu erheblichen Längen führt.

 

Zum anderen verliebt sich der Inspektor im Laufe der Ermittlungen in die frustrierte Lehrerin des toten Mädchens, Susana Grey. Sie hätte es vorgezogen, in ihrer Geburtsstadt Madrid zu arbeiten, folgte aber einem töpfernden Altachtundsechziger in diese öde Provinz, der sich erst ihrer Hochzeit in weiß widersetzte, um sie schließlich mit einem Kind, einer Hypothek und dem Kredit für das Auto sitzenzulassen.

 

Für einen kurzen Augenblick richtet sich das flüchtige Interesse einer blutrünstigen, von Sensationsgier getriebenen Medienöffentlichkeit also auf diese abgelegene Kleinstadt, um dem hungrigen Publikum zum Mittagessen ein weiteres Gewaltverbrechen zu präsentieren. Ungewollt verhelfen die Medienvertreter den ETA-Aktivisten so zum Wissen über den aktuellen Aufenthaltsort des Inspektors, wodurch - man ahnt es bereits - der Protagonist knapp 400 Seiten später (und auch geographisch weit entfernt vom Herd des baskischen Konflikts), Opfer eines Anschlags wird.

 

So irrt der Inspektor auf der Suche nach einem Augenpaar durch die Kleinstadt, während der perverse Mörder sich über die Unfähigkeit der Polizei wundern und sich ihr unendlich überlegen fühlen darf. Vier Wochen nach dem Mord, es ist Vollmond, das Medieninteresse an diesem Fall hat lange aufgehört zu existieren, schlägt der triebhafte Täter erneut zu, während der Inspektor, von Gewissensbissen gegenüber seiner Frau gepeinigt, die er nicht mehr liebt, die Nacht mit der großen Liebe seines Lebens, der Lehrerin, in einem Hotel außerhalb der Stadt verbringt. Doch das zweite Opfer überlebt und mit seiner Hilfe gelingt es schließlich, den Täter zu überführen.

 

Dieser Roman ist nicht, wie der Klappentext verspricht, »la gran novela de la madurez creadora de Antonio Muñoz Molina«, obwohl man ihm anmerkt, daß er es hätte werden sollen. Muñoz Molina (*1956) muß nach seinem letzten großen Romanerfolg El jinete polaco (1991), für den er sowohl den Premio Planeta als auch den Premio Nacional de Literatura bekommen hatte, und mehr noch nach seiner 1995 im Alter von nur 39 Jahren überraschend erfolgten Berufung in die Real Aca-demia einen enormen Erfolgsdruck auf sich lasten gespürt haben. Nur so ist zu erklären, daß er die zeitkritischen Themen, die in seinen Zeitungskolumnen mit steter Regelmäßigkeit wiederkehren, allesamt in einem einzigen Roman zu verarbeiten versucht, einem Roman, der allen Kritikern hätte beweisen sollen, daß es auch heute noch Autoren gibt (namentlich einen, nämlich Muñoz Molina), die sich sehr wohl mit den Problemen der Zeit auseinanderzusetzen verstehen, anstatt sich in die Nische ihres Privatlebens zurückzuziehen. Die in Plenilunio postulierte Kritik an einer nur kurzzeitig interessierbaren Medienöffentlichkeit, am Umgang der Gesellschaft mit Gewaltverbrechern, die zu leicht als unzurechnungsfähig gelten, und ihren Opfern, die zu schnell überhaupt nicht mehr interessieren, und schließlich am Terrorismus, mit dem ETA nicht nur das Baskenland, sondern ganz Spanien überzieht, kann nicht wirklich zum Nachdenken anregen. Dafür ist die Darstellung einfach zu klischeebeladen, sind die Charaktere so stereotyp angelegt, daß sie zuweilen als die groteske Karikatur ihrer Selbst ungewollt der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Daß der zweifache Täter den Inspektor nach einigen Monaten um einen Besuch in der Haftanstalt bittet, währenddessen er ihm eröffnet, er habe nun zu Gott gefunden und sei sich sicher, in den Momenten seiner Taten von einem Dämon besessen gewesen zu sein, ist da nur das Tüpfelchen auf dem i.

 

Auch wenn Plenilunio nicht sein bester Roman ist, ist er weit davon entfernt, schlecht zu sein, was die Ausnahmestellung Muñoz Molinas innerhalb der Generation junger spanischer Schriftsteller, die schließlich - wie der Fall von Javier Marías zeigt - auch bei uns erfolgreich sein können, untermauert. Es gelingt ihm - und hier kommt er seinem Vorbild Onetti nahe -, die Handlung erneut in das fiktive Mágina, jenes Juwel der Renaissance, zu verlegen, in dem sich der mit den Werken des Autors vertraute Leser auch ohne die ausdrückliche Nennung des Ortsnamens zurechtfindet. Auch die Verwandtschaft des Pater Orduña mit dem General, dessen Statue auf dem Hauptplatz der Stadt steht, und somit mit der reichsten Familie des Ortes, leuchtet diesem Teil der Leserschaft sofort ein und sorgt - wegen Orduñas Hinwendung zu kommunistischen Idealen - hier gleichzeitig für ungläubiges Staunen. So wird das Lesepublikum durchaus Glücksmomente hervorragender Einsichten in die condition humaine erleben, wie bei der Beschreibung der trauernden Familie des Opfers, der wirren Gedanken des Psychopathen kurz vor seiner Tat oder des Zorns des Gerichtsmediziners beim Anblick junger, noch unverbrauchter Organe, die das Mädchen trotzdem nicht am Leben halten können. Das wirkliche Manko dieses wiederum mit der Sprache eindrucksvoll umgehenden Romans liegt so wohl eher darin, daß nicht nur Muñoz Molina einen Erwartungsdruck auf sich lasten gespürt haben wird, sondern daß es diesen Erwartungsdruck wirklich gab.

 

Antonio MuñozMolina: Plenilunio. Madrid, Alfaguara, 1997. 485 pags. 2800 Pesetas.