Mit dem OP-Saal durch die Anden

Stephan Küffner Andrade

Die Idee ist verblüffend einfach - man nehme einen Lastwagen und verwandle ihn in einen fahrbaren Operationssaal. 

 

Den ersten Wagen dieser Art gibt es aber erst seit 1994, und zwar im armen Ekuador. Nicht nur wird so endlich moderne Medizin auch der armen Landbevölkerung zugänglich; der Ausgang der ersten 1.500 Operationen belegt, daß die Rekonvaleszenz in der Indianerhütte eher gelingt als in einer deutschen oder US-amerikanischen Klinik.

 

Die Stiftung Cirugía Integral de los Andes (CINTERANDES) stellt die Chirurgie ins Zentrum ihres entwicklungspolitischen Modells. Im Gegensatz zu langfristigen Projekten, deren Erfolg zum Teil nur schwer meßbar ist, läßt sich der Ausgang einer Operation sofort messen. "Der technische Fortschritt in der ambulanten Medizin macht es möglich, Patienten zu operieren und sie am selben Tag wieder zu entlassen", erklärt der Leiter der Stiftung, Edgar Rodas Andrade. 1992 erkannte der ekuadorianische Chirurg, wie diese neuen Technologien nicht nur den Reichen in seiner Heimat helfen können. Er entwarf den ersten mobilen Operationssaal der Welt, mit dem auch entlegenste Dörfer im kleinen Andenstaat an der Westküste Südamerikas erreicht werden. Drei Jahre trieb Rodas Spendengelder ein, bis 100.000 US-Dollar aufgetrieben waren. Mit denen konnte in den Vereinigten Staaten ein acht Meter langer LKW einer japanischen Marke mit einem acht kW Generator, fließendem Wasser, Licht, Luftfilter und (gebrauchten) Meß- und Operationsgeräten bestückt werden - eine Weltneuheit aus Ekuador.

 

Seitdem operiert ein Freiwilligenteam aus drei Chirurgen, vier Anästhesisten und drei gelegentlich aushelfenden weiteren Spezialisten im mobilen Operationssaal. Basis von CINTERANDES ist das südekuadorianische Cuenca (250.000 Einwohner), eine vergleichsweise wohlhabende, reizvolle alte spanische Kolonialstadt. Trotzdem mangelt es dort nicht an Bedürftigen, die wöchentlich ambulant behandelt werden. Der rollende OP-Saal fährt zudem ebenfalls wöchentlich in die ländlichen Gemeinden der Umgebung, die zu den ärmsten des Landes gehören. Drei bis fünf Tage im Monat ist der weiße Lastwagen länger unterwegs und erreicht armselige Pfahlbauten der Küstenebene, zugige Hütten in den kalten Anden und frisch dem Regenwald abgetrotzte Bambus- und Wellblechhütten in Amazonien.

 

Das medizinische Hilfsprogramm wendet sich vor allem an Kinder. Zunächst untersucht ein Arzt in einer der vielen kleinen, aber nur notdürftig eingerichteten ländlichen Krankenstationen Schulkinder aus der Umgebung. Behandlungsbedürftige Fälle werden von einem Chirurgen und Anästhesisten der Stiftung bestätigt. Meist handelt es sich hierbei um Bauchwandbrüche, Leistenhoden, Vorhautverengungen sowie um diverse Augenleiden. Die Ergebnisse und die Risiken des Eingriffs werden bei jedem Fall mit den Eltern besprochen - oft mit Hilfe eines Dolmetschers, da viele Indianer in entlegenen Gebieten kaum oder gar nicht Spanisch sprechen. Ohne ihre Einwilligung wird nicht operiert. Gelegentlich werden auch Erwachsene operiert, die um eine Behandlung bitten. Vor- und Nachbehandlung finden in zwei Zelten statt. Die meisten Patienten werden bereits am Tage ihrer Operation entlassen, sobald kein Risiko anästhäsiologischer oder chirurgischer Komplikationen mehr besteht.

 

Falls nötig, werden komplexere Operationen, wie Galle-, Magen-, Darm- oder gynäkologische Eingriffe, in den kleinen Krankenstationen durchgeführt. Hier bleiben die Patienten während ihrer Rekonvaleszenz in der Obhut der Ortskräfte. In den seltensten Fällen traten Komplikationen auf; bei über 1.500 Operationen wurden nur zwei Personen aufgrund unvorhersehbarer Probleme nach Cuenca in die Klinik gebracht. Allerdings endet die Behandlung nicht am Tage der Operation. Die Patienten werden jeweils eine Woche, einen Monat und ein Jahr nach der Operation abermals untersucht. Neben dem Wohl der Patienten dient dies auch der Gewinnung gesicherter wissenschaftlicher Daten.

Der Erfolg des Modells, das Rodas gerne als Pilotprojekt für andere Entwicklungsländer sieht, ist an den Statistiken abzulesen. Nach mehr als 1.500 Operationen im OP-Wagen steht fest: Die Zahl der Komplikationen ist extrem niedrig, nicht nur im Vergleich zu ekuadorianischen Krankenhäusern, sondern auch im Vergleich zu den in Industriestaaten geführten Statistiken. In 0,5 Prozent der Fälle wurden Menschen durch die Behandlung infiziert worden, in Industrieländern werden ein bis zwei Prozent gemeldet, kontaminierte Wunden haben eine Infektionsrate von 2,85 Prozent, während entsprechende Fälle der 'Ersten Welt' drei bis fünf Prozent betragen. Der Grund für diese geringe Zahl an Komplikationen beruht, laut Rodas darauf, daß "die Patienten korrekt ausgesucht werden und 99,9 Prozent der Operationen geplant sind. Wir behandeln nur äußerst selten Notfälle."

 

Gleichzeitig ist das gesamte Umfeld der Operationen, trotz der Armut der Bevölkerung, für eine erfolgreiche Behandlung äußerst günstig. Früher wäre beispielsweise eine Frau mit einem Leiden erst viel zu spät zum Arzt gegangen, aus Sorge um die von ihr abhängige Familie. Ein leicht heilbares Problem wurde so oft zu einer ernsthaften Pathologie. Zudem ist der Weg in die Großstadt teuer und beschwerlich. Der Aufenthalt in der Stadt wurde leicht zum Trauma, wenn die fremde Frau dem Rassismus und den kulturellen Barrieren eines unbekannten Systems begegnete - keine gute Aussicht für eine Heilung. Stattdessen werden die Patienten heute respektvoll in ihren Heimatdörfern behandelt. Oberflächlich betrachtet bietet eine kalte Hütte in den Anden weniger Sicherheit als ein desinfiziertes Zimmer in einem deutschen, schwedischen oder US-amerikanischen Krankenhaus. Während in den Industriestaaten jedoch aggressive, antibiotika-resistente Krankheitserreger in den peinlich sauberen Kliniken grassieren, sind sie in der 'grünen Hölle' Amazoniens problemlos mit einer bescheidenen Dosis Antibiotika zu behandeln.

 

Ekuador ist einer der am höchsten verschuldeten Staaten Lateinamerikas. Der bescheidene staatliche Gesundheitsdienst steht unter starkem Reformdruck; verunsicherte Angestellte haben das System in den letzten Monaten durch Streiks zum Stillstand gebracht. Dagegen bietet die Nichtregierungsorganisation CINTERANDES, die sich fast ganz aus Spenden finanziert, eine effiziente Alternative. Die ersten 1.000 Operationen im fahrbaren OP-Saal - die freiwillige Arbeitsleistung der Ärzte nicht mitgerechnet - kosteten etwa 120.000 US-Dollar. Bei etwa 120 US-Dollar pro Eingriff ist dieser Preis schon für ekuadorianische Verhältnisse niedrig - für Deutschland oder die USA undenkbar billig. Und für eine kleine Volkswirtschaft sind die inzwischen über 1.500 gesunden Kinder und Erwachsenen weit mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein.