La hija del caníbal

Rosa Monteros neuer Roman

von Hilde Regeniter

Lucía Romero und ihr Mann wollen den Jahreswechsel in Wien verbringen. Doch als Ramón kurz vor dem Einchecken nicht von seinem Gang auf die Flughafentoilette zurückkehrt, hat dies für Lucía weitreichende Folgen. Die 41jährige Autorin des mehr oder weniger erfolglosen Kinderbuches "Belinda, la Gallina” muß sich zunächst ganz allein mit den Entführern der dubiosen Vereinigung "Orgullo Obrero” herumschlagen, die Ramón in ihre Gewalt gebracht haben. Sie fühlt sich völlig im Stich gelassen von ihren egoistischen Eltern und all den sogenannten Freunden, die im Grunde nichts mehr als oberflächliche Bekanntschaften sind.

 

Was zunächst wie eine Kriminalgeschichte anmutet, entpuppt sich nach und nach als eine Art Entwicklungsroman. Rosa Montero läßt in ihrem letzten Roman La hija del caníbal die Protagonistin aus den Wirren einer tiefen Midlife-crisis zu einem neuen Bewußtsein ihrer selbst finden.

 

Diese gewandelte Selbstwahrnehmung verdankt Lucía nicht zuletzt den beiden sehr unterschiedlichen Nachbarn, die sie erst nach dem Verschwinden Ramóns kennenlernt, und die ihr bei der Suche nach dem Gatten zur Seite stehen. Da ist zunächst Adríán, 20 Jahre jünger als Lucía, ein zurückhaltender Twen, dem jedoch in jeder Situation das passende Zitat irgendeiner wichtigen Persönlichkeit auf den Lippen liegt.

 

Mit ihm lebt Lucía eine ebenso intensive wie kurze Affäre. Und da ist vor allem der 80jährige Félix Robles, ehemaliger Stierkämpfer und ein alter Anarchist. Zwischen die Berichte der Ich-Erzählerin Lucía sind mehrere Kapitel geschaltet, in denen Félix die Geschichte seines Lebens erzählt: von seiner Kindheit in Mexiko an der Seite Duruttis und anderer spanischer Anarchisten im Exil, über einschlägige Erlebnisse während des Bürgerkrieges, bis hin zum Alltag im Nachkriegsspanien unter Franco. Diese erzähltechnisch sehr gelungenen historischen Exkurse, Berichte eines individuellen Erlebens von Geschichte in bewegten Zeiten, geben Lucía Impulse, ihr bisheriges Leben neu zu durchdenken und andere Werte für sich selbst zu finden. So gesteht sie sich schließlich ein, was für ein Selbstbetrug die Beziehung mit Ramón bereits über Jahre hinweg war und zieht die Konsequenzen daraus.

 

Dieser Prozeß der Selbsterfahrung Lucías macht das eigentliche Herz der Erzählung aus und ist zugleich der überzeugendere Teil des Romans. Daß der Text niemals zu reiner 'Therapieliteratur' verkommt, verdankt er dem humorvoll-selbstironischen Tonfall der Erzählerin, die mehrmals von der ersten in die dritte Person wechselt: "..el uso de la tercera persona convierte el caos de los recuerdos en un simulacro narrativo y disfraza de orden la existencia.”

 

In die Erzählung der eigentlichen Geschehnisse läßt Rosa Montero ihre Protagonistin gekonnt zahlreiche Assoziationen, Erinnerungen und Lebensweisheiten à la "La vida es como un viaje[...], y en mitad del trayecto comienza el desierto” einflechten. Der Erzählduktus um die Entführung, um gescheiterte Geldübergaben und endloses Warten auf Anrufe seitens der Erpresser wirkt hingegen oft zu konstruiert. Der Leser merkt allzu deutlich, daß dieses Handlungsgerüst im Grunde nur als Vorwand dient, das Gefühls- und Seelenleben Lucías auszubreiten. Mit dieser Einschränkung: Ein empfehlenswertes Buch - witzig und zugleich nachdenklich. Kommen wir doch mit Lucía nach und trotz und gerade wegen aller Desillusionierung zum Schluß: "Pero, como dice Félix, siempre existe la belleza.”

 

Rosa Montero: La hija del caníbal. Espasa Calpe, Madrid, 1997. 338 Seiten. 2.600 Pesetas.