"Experimentelle Übung in Sachen Freiheit"

Die Kunst des Brasilianers Hélio Oiticica: Versuch einer Annäherung

von Hedda Dunker

Eine schwarze Box ohne Deckel, deren Wände mit den Zeitungsfotos eines erschossenen jungen Mannes ausgekleidet sind. Auf dem Boden der Box ein schwerer, weicher Plastiksack mit roten Farbpigmenten gefüllt, dessen Außenseite mit schwarzen Buchstaben bedruckt ist.

 

Nur vorsichtig nähert man sich als Betrachter diesem Objekt, das Hélio Oiticica 1966 als Hommage an Cara de Cavalo, einen Freund, geschaffen und Box-bólide 18 betitelt hat. Cara de Cavalo, Bewohner einer Favela von Rio de Janeiro verbrachte den größten Teil seines Lebens als Krimineller auf der Flucht vor der Polizei. Die Freundschaft mit Personen, die gesellschaftliche Ächtung erfahren, ist für Oiticica von paradoxen Gefühlen begleitet, die als "ethisches Moment" großen Einfluß auf seine Kunst genommen haben:

 

"I wanted here to homage what I think is the individual social revolt: there is a contrast, an ambivalent character in the behaviour of the marginalized man: besides a great sensibility lies a violent character and, in general, crime is a kind of desperate search for happiness."

 

Als Sohn eines traditionell anarchistisch geprägten Elternhauses war die sozialkritische Komponente in seinem Werk zwar von Anfang an spürbar, eine deutliche Entwicklung und ein Einbringen eigener Erfahrungswerte haben jedoch im Laufe der Zeit nicht minder dazu beigetragen, die Kunst Hélio Oiticicas zu konstituieren.

 

Zu Beginn seines Studiums bei Ivan Serpa an der Escola do Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro, war der Brasilianer siebzehn Jahre alt. Schon bald fühlte er sich der neo-konkreten Bewegung seines Landes verbunden und wurde Mitglied des Grupo Frente, später des Grupo Neoconcreto, die das Staffeleigemälde ablehnten und Farberfahrungen räumlich und zeitlich zu verschieben suchten.

 

Die Erforschung der grundlegenden strukturellen Fragen von Farbe und Gemälde beziehen sich in den frühen Werken Oiticicas noch stark auf die rein visuelle Wirkung. Dazu zählen vor allem die Metaesquemas, auf geometrischen Formen aufgebaute Gouachearbeiten auf Papier, die 1957/58 entstanden sind.

 

Hélio Oiticica beginnt in dieser Zeit auch mit dem, was wir heute als sein umfangreiches schriftliches Werk bezeichnen. In Notizbüchern und auf aller Art losen Zetteln hat er bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1980, als eine Art Begleittexte zu den Werken, seine oft schwer nachvollziehbaren Denkprozesse zu Papier gebracht. Diese Texte sind größtenteils unveröffentlicht, jedoch dank des auf Initiative der Familie Oiticica und einiger Freunde des Künstlers gegründeten Projeto Hélio Oiticica erhalten.

 

1959 entstehen Reliefs, weitgehend monochrome, mit Ölfarbe bemalte Holzplatten, die, an Nylonfäden im Raum aufgehängt, das Bestreben des Künstlers darstellen, die "Passivität der Bildoberfläche zu überwinden". Diese Aussage wird in der 1960 ausgestellten Arbeit Nucleo noch gesteigert. Die bemalten Holzplatten hängen in einer gewissen Anordnung, in verschiedener Höhe. Dem Betrachter wird durch das Umhergehen in den Reliefs eine neue Raum- und Farberfahrung nahegebracht.

 

Doch erst die darauffolgenden Inventionen des Brasilianers, lassen ihn im eigentlichen Sinne zu einem der bedeutendsten Avantgarde-Künstler seines Landes werden; für Edward Sullivan "sprengten die Inventionen Oiticicas manchen im Kunstbetrieb vorherrschenden Definitionsrahmen".

 

Einen Bereich dieser neuen Arbeiten bilden die sogenannten bólides ("Feuerbälle"), die in den Jahren 1963-66 den Beginn eines Prozesses zeitigen, der die Farbe anderen Sinnen, nicht nur dem visuellen, zugänglich macht. In den unterschiedlichsten Rot- und Gelbtönen bemalte Behälter, z.T. mit kleinen Schubladen versehen, Glasgefäße mit farbigen Inhalten, die man als Erde oder Pigmente, als Gaze oder Leinenstoff identifizieren könnte, bieten die Möglichkeit, Farben anzufassen, ihre Konsistenzen zu entdecken. Die farbigen Materialien reizen den Betrachter zum Berühren, zum Aufheben und zum Fühlen. Besonders in den Box-bólides, in deren Schubladen man Erde oder Farbpigmente entdeckt, wird durch das Vorfinden der losen Naturelemente an einem Ort, der für gewöhnlich kleine persönliche Besitztümer einschließt, ein besonderer Wahrnehmungseffekt erzielt. In anderen bólides bildet das Material nestartige Gebilde oder Verwebungen.

 

Der Anblick dieser Gefäße aus Glas, Plastik, Holz oder Karton samt ihrer farbigen Inhalte, erinnert an die Farbwahrnehmungen Walter Benjamins, der in seinen Haschischversuchen Entdeckungen bezüglich der Farbwirkungen macht, und erkennt, "daß sie [die Farben] vor allem Form besäßen, daß sie sich vollkommen identisch mit der Materie, an der sie erschienen, machten. Indem sie dennoch an dem Verschiedensten -zum Beispiel einem Blumenblatt und einem Blatt Papier- ganz gleich aufträten, erschienen sie als Mittler oder Kuppler der Stoffbereiche".

 

Oiticicas Objekte, die teilweise durch äußere Einwirkungen wie Lichteinflüsse manipulierbar sind, sind keine völlig autonomen Kunstwerke, da sie auf die Beziehung und die Beteiligung des Betrachters ausgerichtet sind; dennoch wird dieser Betrachter, der eingeladen ist, seine Entdeckungen zu machen, auch immer ein wenig auf Distanz gehalten.

 

Die bólides tauchen in der Kunst Oiticicas immer wieder auf; in abgewandelter Form, nicht länger als fabrizierte Objekte, sondern vielmehr als fokussierende Darstellungsform der täglichen Umgebung, wie es die Hommage an Cara de Cavalo gezeigt hat. Die eigene Wahrnehmung der Umgebung veränderte sich für den brasilianischen Künstler ganz wesentlich durch seine Besuche und Aufenthalte in Mangueira, einer Favela oberhalb von Rio. Mitte der 60er Jahre zog es ihn zum ersten Mal in diese 'Welt', die eine starke Anziehungskraft auf ihn ausübte und seine Sicht des Kunstschaffens im europäischen Teil von Rio de Janeiro veränderte. Er verstand sich eher als ein Bewohner denn ein Besucher von Mangueira, versuchte an den Lebensformen teilzuhaben. Der Kunstkritiker Guy Brett, der einen sehr großen Anteil an dem Verständnis der Kunst und der Persönlichkeit Hélio Oiticicas hat, sieht besonders drei Aspekte des Lebens in Mangueira, die den Brasilianer anzogen und seine Kunst und sein Denken beeinflußt haben: Da ist vor allem der Samba, der kollektive Mythos von Mangueira, aber auch die sozialen Beziehungen der dort lebenden Menschen, ihre Kommunikation untereinander und ihr Verhältnis zur ´Außenwelt´. Ein dritter Aspekt ist die Architektur; Häuser, die aus verschiedensten Resten und Abfällen aufgebaut wurden.

 

Nicht nur die bólides erfahren durch diese Inspirationen neue Inhalte. Auch eine weitere, seine Arbeit bestimmende 'Kategorie', die parangolés (Slangwort für eine Situation plötzlicher Verwirrung oder Aufregung unter Menschen), erhalten neue, durch die Einblicke und Erfahrungen in Mangueira vertiefte Bedeutungsschwerpunkte. 1964 entwickelt Oiticica zunächst farbige Gewänder, die ihre 'Träger' in eine lebende Skulptur verwandeln und in dieser Form Anklänge an Body Art, Happening oder Performance zeigen. Doch ungewöhnliche Materialien und Stoffe lassen den Kleidungscharakter der pangolés in der Folgezeit zusehends verschwinden. So erhalten plump wirkende Umhänge aus Sackleinen, mit Tierfutter gefüllt, eine eingängige, aber auch krasse Konnotation, die auf die Hungersnot in vielen Teilen Brasiliens bezogen, eine direkte Sozialkritik Oiticicas darstellt. Ein parangolé muß jedoch nicht die Form eines Umhangs oder Gewandes haben; auch Banner und Zelte tragen die Erfahrung dieser von Oiticica entwickelten 'Kategorie' in sich, die im Brasilianischen eine "aufgeheizte Situation unter Menschen" beschreibt.

 

Sullivan sieht die zentrale Erfahrung der parangolés in der "Interaktion, Bewegung und Veränderung des Realitätsbewußtseins des Menschen." Die ersten parangolés entstanden Mitte der 60er Jahre.

 

Der brasilianische Künstler, der es nicht anstrebte, seine Arbeiten in Museen und Galerien, also in konventionellem Rahmen auszustellen, installierte im Sommer 1966 erstmals Tropicalia im Museu de Arte Moderna in Rio. Ein penetravel (Installation) als Beispiel für die spezifisch brasilianischen Elemente im Werk Oiticicas und gleichzeitig ein Höhepunkt seines Schaffens. Die begehbare, mit Sand und Erde ausgelegte, mit tropischen Pflanzen und Fernsehern ausgestattete Konstruktion mehrerer 'Räume', verdeutlicht die Idee des brasilianischen Künstlers, daß die Dinge zweierlei Aktions- bzw. Wirkungsmöglichkeiten besitzen: die offensichtlichen und die versteckten. Tropicalia bietet einerseits eine tropische Umgebung, deren Bilder durchaus dem Klischee brasilianischer Folklore entsprechen; andererseits ist es jedoch der Prozeß der Durchdringung sowie das Netz sensibler Bilder, die eine intensive und intime Konfrontation des Betrachters mit seiner Umgebung und Wahrnehmung zur Folge haben. Durch den in völliger Dunkelheit auftauchenden Fernseher, der aktuelle Bilder und Soap-Operas transportiert, wird das Verschmelzen aber auch die Ironisierung des Klischeehaften und des Realen verstärkt. Auch hier und in weiteren penetravels wird der Betrachter nicht nur visuell mit Eindrücken überhäuft, sondern erlebt die Installation, spürt den Sand unter seinen Füßen, wird mit Geräuschen konfrontiert, die der Fernseher, aber auch raschelnde tropische Pflanzen erzeugen.

 

Hélio Oiticica, der im kulturellen Bewußtsein Brasiliens einen ähnlichen Stellenwert besitzt wie Joseph Beuys in Europa, erlangte hier trotz seiner herausragenden schöpferischen Persönlichkeit erst nach seinem Tod einen gewissen Bekanntheitsgrad. Dieser ist nicht zuletzt einer großen Retrospektive zu verdanken, die im Frühjahr 1992 im Witte de With Art Center in Rotterdam zu sehen war und von dort aus nach Paris, Barcelona, Lissabon und Minneapolis wanderte. Eine Ausstellung, die einen Gesamtüberblick seines Werkes zeigte, was sowohl originale Arbeiten und Installationen des brasilianischen Künstlers, als auch Rekonstruktionen und die erstmalige Präsentation der Installation Cosmococa von 1973, die zu Lebzeiten Oiticicas nicht ausgestellt worden war, beinhaltete.

 

Im Museum Ludwig waren die Metaesquemas innerhalb der Ausstellung Lateinamerikanische Kunst im 20.Jahrhundert zu sehen. Der Großteil seiner Arbeiten wird in dem 1996 vom Projeto Hélio Oiticica eröffneten Centro de Arte Hélio Oiticica in Rio de Janeiro verwaltet.

 

Die Kunst Oiticicas ist eine experimentelle Form der Einbeziehung des Betrachters; dessen Wahrnehmungsweisen geben den Objekten ihre Manipulierbarkeit; die Vorstellung und die Zielrichtung des Künstlers ist jedoch markant in die Experimente eingebaut. Oiticica zielt so auf die Findung einer brasilianischen Kunstform, die die stereotypen Konzeptionen lateinamerikanischer Kultur überwindet, indem jegliche Bedingung zugunsten der individuellen Freiheit aufgegeben wird. Die Schriften, die der Brasilianer hinterlassen hat, sind für ein Verständnis der die Kunstwerke konstituierenden Denkprozesse fast unentbehrlich; sie bilden einen Teil der verwirrenden Formen, Gedanken, Haltungen und Materialien, die sich durch seine Kunstwerke artikulieren.

 

Oiticica ist mit seiner Kunst ein Vertreter der Verbindung einer "spezifischen Artikulation geometrischer Modelle mit dem physischen und sozialen Körper in der modernen brasilianischen Tradition". Dieses Zitat von Catherine David, der künstlerischen Leiterin der Dokumenta X, beschreibt die Kunst des lateinamerikanischen Avantgardisten, verdeutlicht aber auch die Problematik der Rezeption.

 

Bei einem Besuch der Kasseler Ausstellung konnte man sich nun von der besonderen Farbwirkung, dem Ausdruck und auch dem Anliegen einiger Objekte Hélio Oiticicas überzeugen.

 

Zweifelsohne wäre es jedoch wünschenswert, schon bald ganz in unserer Nähe eine ausführliche Schau dieses schwierigen und engagierten Kunstschaffens mit allen Sinnen genießen zu können.

 

* Mario Pedrosa über die Kunst Oiticicas