Zwischen Abgrenzung und Anpassung

Deutsche Einwanderer am Oberen Paraná

von Holger M. Meding

Über das gesamte 19. Jahrhundert bis weit in die Gegenwart ist Deutschland ein Auswanderungsland gewesen. Politische Verwerfungen, mehr aber noch die Zyklen der wirtschaftlichen Entwicklung steuerten die Massenemigration, die nur in Kriegszeiten versiegte und bis zum Zweiten Weltkrieg weit über vier Millionen Menschen auswandern ließ - zumeist nach Übersee. "The German is a migratory creature", meint der US-amerikanische Historiker Richard O'Connor und folgert: "Not the menacing Prussian eagle but the Wandervogel is the German national bird."

 

Die erste nach Südamerika gesandte Auslandskorrespondentin der Kölnischen Zeitung, Leonore Nießen-Deiters, beschrieb im Jahre 1913 in 28 Berichten die argentinische Republik, "das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Land, das (...) nicht durch einen siegreichen Krieg sondern einen siegreichen Frieden zur Front vorrückt". Ihre Reise führte sie mit dem Raddampfer auch in die abgelegenen Gebiete am Oberen Paraná, wo sie in Misiones, in der Gegend der alten Jesuitenreduktion Apóstoles, nicht ohne Erstaunen auf Ansiedlungen von Rußlanddeutschen, Österreichern und Reichsdeutschen traf.

 

Misiones, zwischen den Oberläufen des Río Paraná und Río Uruguay gelegen, war seinerzeit noch ein Bundesterritorium, welches von der Zentralregierung von Buenos Aires verwaltet wurde. Die Erhebung zur Provinz erfolgte trotz mannigfacher früherer Versuche erst 1953 unter der Regierung Perón. Nach dem Tripel-Allianz-Krieg hatte sich Argentinien das Gebiet Misiones gesichert, dessen Zugehörigkeit zwischen Paraguay und Argentinien (bzw. Corrientes) lange Zeit umstritten gewesen war. Die Zentralregierung beabsichtigte nun, dieses größtenteils brachliegende Land zu besiedeln. Neben der generellen Einwanderungs-Zielsetzung der progressiven Regierungen in Argentinien, existierte im Hinblick auf Misiones noch zusätzlich ein strategischer Aspekt. Man wünschte hier eine Bevölkerung, die ohne mögliche Anhänglichkeiten an Paraguay das Land am Alto Paraná kultivieren sollte. Daher zog man eine weitgehend organisierte Einwanderung einer planlosen vor. Misiones wurde infolgedessen wesentlich von Mittel- und Osteuropäern kolonisiert. Kreolen war das Territorium lange Zeit auch nicht attraktiv genug. Sie stellten erst später die Zuzüglinge.

 

1881 wurde das Bundesterritorium Misiones durch Abtrennung von der Provinz Corrientes gegründet. Die Regierung in Buenos Aires trat in Verhandlungen mit ausländischen Konsulaten und versuchte besonders die deutsche Vertretung zu interessieren - mit anfangs geringem Erfolg. Erst um die Jahrhundertwende kam es zu einer verstärkten Aktivität, die sich in zwei Phasen einteilen läßt: staatliche Besiedlung auf Fiskalland bis zum Ersten Weltkrieg und danach, nach der Fertigstellung der Eisenbahnlinie in die Territoriumshauptstadt Posadas, in verstärktem Maße die Kolonisation durch private Gesellschaften. Gemeinsam ist ihnen die Förderung des bäuerlichen Kleinbesitzes, in der Regel in Form des Verkaufs von lotes in der Größe von 25 Hektar.

 

1897 kamen dann die ersten angeworbenen Einwandererfamilien, vornehmlich aus Rußland, der Ukraine und Polen, die sich im südlichen Teil von Misiones, um Apóstoles, einer zerstörten Reduktion aus spanischer Zeit, ansiedelten. In den neunziger Jahren folgten Siedler aus dem Süden Argentiniens und aus Brasilien, die sich in der Gegend der Picada San Javier (Bompland, Cerro Corá, Mecking) niederließen, eine Besiedlung, deren Zahl mit 10.000 Personen deutscher Herkunft angegeben wird, bei einem hohen brasildeutschen Anteil.

 

Auf in den Westen

 

Die deutsche Auswanderung größeren Maßstabes nach Südamerika setzte im Jahre 1824 ein, als die Kaiserin von Brasilien, Leopoldine von Habsburg, in den ärmlichen Gebieten des Hunsrück Siedler für die jungfräulichen und kaum bewohnten Gebiete im Süden des Riesenreiches anwerben ließ. Hier sollte Land urbar gemacht werden und - unter strategischen Aspekt - der Raum gegen Aspirationen aus Buenos Aires gesichert werden.

 

In mehreren Wellen kamen Immigranten aus den deutschen Ländern nach Brasilien. In Rio Grande do Sul und Santa Catarina stellten sie die Pioniere, die den Sertao rodeten, das Land urbar machten und ihm eine Infrastruktur gaben. Ein hoher Kinderreichtum führte in den Folgegenerationen zu Landmangel, so daß sich bald eine beständige und langdauernde Westwanderung dieser Brasilianer deutscher Sprache und Kultur herausbildete auf der Suche nach Land, nach Selbstverwirklichung ohne Regierungskontrolle, nach Freiheit. Polizeigewalt und Staatsgesetz endeten an der Urwaldgrenze.

 

Ende des 19. Jahrhunderts hatte man bereits den Uruguay-Fluß erreicht. Die Verständigungssprache der Siedler war immer noch das Plattdeutsch des Hunsrück, inzwischen bereichert um portugiesische Begriffe und Redewendungen. Staatsgrenzen stellten für sie kein Hindernis dar, und Tausende von Teuto-Brasileiros wechselten über den Alto Uruguay auf argentinisches Gebiet, vor allem in Zeiten politischer Unruhen in Brasilien. Besonders der Erste Weltkrieg, der nach dem Eintritt Brasiliens zu Maßnahmen gegen die deutsche Position ("quistos raciais") im Süden führte, wirkte als zusätzlicher Katalysator, das Land zu verlassen. Argentinien galt hingegen als deutschfreundlich, als ruhig und aufstrebend. Zudem war in Misiones das Land billig: im Schnitt 2 Peso der Hektar.

 

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg lagen in Deutschland gründliche, wenn auch tendenziell schönfärberische Ratgeber für Auswanderungswillige an den Alto Paraná vor ("Zukunftsland deutscher Niederlassung"), aber erst die Nachkriegszeit mit all ihren Mangelerscheinungen und politischen Verwerfungen brachte die Wende. In der politischen Katastrophensituation infolge von Krieg, Niederlage, alliierter Seeblockade des Jahres 1919 und Versailler Vertrag fand der Wunsch mehrerer Überseestaaten, Deutsche zur Kolonisation anzuwerben, ein beträchtliches Echo.

 

Auch in Argentinien erkannte man die günstige Lage für eine Forcierung der Einwanderung. Der argentinische Generalinspekteur des Heeres, Generalleutnant José F. Uriburu, der 1930 im Verlaufe eines Staatsstreiches zum de-facto-Präsidenten des Landes avancieren sollte, unterhielt Kontakte zu Kreisen, die ihm bereits seit Ende des Weltkrieges Vorschläge einer zu planenden und zu organisierenden Besiedlung der Grenzgebiete Argentiniens mit deutschen Kolonisten - quasi als Wehrbauern - unterbreiteten. Man betonte die militärischen Präventivaspekte in der Kolonisation durch weltkriegserprobte deutsche Siedler, während die vermutete planvolle Einkreisung Argentiniens durch seine Gegner die Basis der Argumentation darstellte. In der Folgezeit bot die Regierung billiges Staatsland zur Kolonisation an und erreichte damit, daß ein starker Einwandererzug in diese Gebiete erfolgte.

 

Hingegen waren Privatkolonisationen für den Einwanderer zwar die teurere Alternative, doch boten sie größere Sicherheit, sowohl was den juristischen Schutz des erworbenen Besitzes anging als auch im Hinblick auf eine permanente Sicherung. Der erfahrene Kolonisator Carl Culmey aus Neuwied gründete in Privatinitiative 1919 am Oberen Paraná die Siedlungen Puerto Rico für katholische und Montecarlo für protestantische Siedler und rekrutierte seine Kolonisten vornehmlich unter den Deutschstämmigen in Südbrasilien. In der konfessionellen Trennung, die von Culmey bevorzugt wurde, ließen sich die latenten Animositäten vermeiden, die in Brasilien so lähmend vorhanden gewesen waren.

 

Andere Maßstäbe legte die professionellere Kolonisation an, die im Jahre 1919 der Frankfurter Jude englischer Nationalität, Adolfo Julio Schwelm, der zusammen mit dem Bankhaus Tornquist in Buenos Aires eine Gesellschaft ins Leben rief, welche am Oberen Paraná in Misiones mit deutschen Siedlern eine Kolonie mit dem verheißungsvollen Namen Eldorado gründete und durch die schwierige Phase des Aufbaus führte. Mit einem gewaltigen Reklameapparat und dem Einsatz von Filmen holte Schwelm 3.000 - 4.000 Deutsche nach Eldorado und auch nach Puerto Rico und Montecarlo, dessen Verwaltung er ebenfalls bald übernommen hatte. Nach Eldorado wurden die finanziell potenteren Siedler geleitet, die weniger vermögenden wurden in Montecarlo an Land gesetzt. Ziel dieser Maßnahme war, für den Fall zu erwartender Krisen die Überlebensfähigkeit zumindest einer Kolonie zu garantieren. Am Ende schafften es dann doch beide.

 

Das Geldproblem betraf fast alle Kolonisten und war chronisch. Viele blieben nur, weil ihnen das Geld zur Rückreise fehlte. Selbst Culmeys Organisation mußte mit derjenigen Schwelms fusionieren, da erstere finanziell am Ende war, und auch Schwelm handhabte die Vergabe von Krediten immer restriktiver. Man fand in dieser Notlage eine Lösung auf der Basis der ethnischen Solidarität: die Kooperative. Intern wurde unter den Kolonisten ein bargeldloser Zahlungsverkehr entwickelt, der den Ankauf landwirtschaftlicher Produkte ermöglichte. Die Kooperative war in der Lage, im Außenverkehr den Zwischenhandel auszuschalten oder zu minimieren. Die Kooperative war der große Schutz des Kolonisten; sie sicherte das Überleben und die Existenz. Gleichzeitig sorgte sie aber für die Entstehung geschlossener Gemeinschaften, die sich nach Herkunft, Konfession und Vermögen differenzierten.

 

Deutsche oder Deitsche

 

Die Brasildeutschen lebten sozial getrennt von den Reichsdeutschen (welche sie abgrenzend "Deutschländer" nennen im Gegensatz zu sich selber den "Deitschen"), und diese Scheidelinien zeitigen ihre Nachwirkungen bis heute. Beide Gruppen tendierten dazu, sich die Ehegefährten aus der jeweiligen Heimat zu holen. Deutlich abgeschlossen lebten auch die Wolgadeutschen in Baja Misiones, ebenso die Schweizerdeutschen, und selbst bei den Reichsdeutschen kam es zu differenzierenden Absonderungen, wie es die Toponyme Bayerntal und Schwabental im Eldorado-Gebiet belegen.

 

Die eigentliche Kolonisation erfolgte unter schwierigsten Umständen. Ein widriges Klima, Scharen von Ungeziefer, vor allem aber der zähe subtropische Regenwald waren zu bezwingen. In den ersten Jahren war die Natur der Feind. In der Literatur wird ein Kolonist mit den Worten zitiert: "Ich habe ihm gegenübergestanden, diesem grünen Ungeheuer. Nicht um es zu besingen, sondern um es zu besiegen. Da war der Wald nicht mehr so, wie ich ihn immer gesehen: freudige bunte Halle neben dämmernder, die Seele mit Andacht füllender Mystik. Da erhob er sich plötzlich vor mir als furchtbares Tier. Gieriger als jene Ungeheuer der Tiefsee umschlang er mich mit tausend Krakenarmen, um mir das Blut auszusaugen ...".

Die Kolonisation war individuell und kollektiv ein gewaltiger Lernprozeß, dem sich viele nicht gewachsen zeigten. Städter scheiterten eher als Ankömmlinge vom Lande, Gebildete scheiterten eher als weniger Gebildete. In der Anfangsphase war der Brasildeutsche am erfolgreichsten: er war mit Pionierarbeit und den Möglichkeiten des Bodens am ehesten vertraut, er wußte welche Pflanzen und Tiere des Urwaldes eßbar waren und welche heilende Wirkung besaßen. Mitteleuropäische Siedlungsformen (Waldhufendörfer) wurden von diesen Teuto-Brasileiros, deren Erfahrung und Hilfe für die reichsdeutschen und schweizerischen Kolonien von höchstem Wert waren, eingeführt und setzten sich schließlich als gemeindeutscher Siedlungstyp durch. Auch dachte man selbst in der schwierigsten Phase des Überlebenskampfes über die Gegenwart hinaus. Gleich welcher Herkunft, gleich welcher Konfession, gleich welcher Prosperität: in jeder Neusiedlung steht sehr bald eine Kirche und eine Schule - eine deutsche natürlich. Geknüpft an Sprache und Kultur wurde so der Gedanke an die Ewigkeit mit dem an die irdische Zukunft verbunden.

An der Urwaldgrenze war Solidarität eine Überlebensnotwendigkeit. Die Konzentration auf die Gemeinde, die Organisation auf der Basis der landsmannschaftlichen Herkunft der Volksgruppen und das Prinzip der Subsidiarität verhinderten allerdings die Bildung eines gemeinschaftlichen Deutschtums in Misiones. Brasildeutsche Siedlungen existierten neben reichsdeutschen, schweizerdeutschen oder rußland-deutschen Gebieten. Man stand in Kontakt miteinander, war einander aber dennoch fremd. Man half einander, fand aber nicht zueinander. Die unterschiedliche Herkunftsgeschichte, das Kulturgefälle von einem Jahrhundert zu den Brasildeutschen und zwei Jahrhunderten zu den Rußlanddeutschen hatten eigenständige Prägungen bewirkt. Man betonte den Unterschied auch äußerlich: die Teuto-Brasileiros trugen ihren Filzhut mit breiter Krempe, die Reichdeutschen mit schmaler Krempe.

 

Zwar gab es gemeinsame Institutionen wie den Gesangsverein. Spannungen traten aber dennoch relativ bald auf, wenn man auf Dauer zusammenleben mußte. Die Siedlung Monte Carlo, gegründet von Teuto-Brasileiros, weiterbesiedelt mit Reichsdeutschen stockte mehrfach in ihrer Entwicklung, nicht nur aufgrund finanzieller Probleme. Die brasildeutsche Kolonie Puerto Rico überwarf sich mit ihrem reichsdeutschen Pastor, der ihnen zu preußisch war.

 

Einig war man sich vornehmlich in gemeinsamen Abneigungen. Die deutsche Sprache, gemeinsame Lieder und eine gemeinsame Arbeitsethik schufen Verbindungen, die in ein gemeindeutsches Sonderbewußtsein mündeten, das seine Gemeinsamkeit im Gefühl der Überlegenheit gegenüber den anderen Volksgruppen fand (Aufbauleistung, Sauberkeit, Moral). Der Kontakt mit den anderen ethnischen Gruppen (Slawen, Kreolen, Guaraní-Indianern) wurde auf ein notwendiges Minimum beschränkt und besaß in der Koloniasationsphase keine gesellschaftliche Relevanz. Während sich in Oberschlesien am Annaberg Deutsche und Polen blutige Gefechte lieferten, herrschte zur gleichen Zeit bei ihren Landsleuten am Cerro Santa Ana in Misiones friedliche Koexistenz. Man ging sich allerdings nach Möglichkeit aus dem Weg.

 

Bereits gegen Ende der zwanziger Jahre hatten die ersten Neu-Siedlungen die schwerste Zeit überstanden, und der Besuch der ehemaligen Kronprinzessin Cäcilie, die Schwelm auf seiner Jacht La Svástica von der Territoriumshauptstadt Posadas bis Eldorado brachte, verlieh den Gründungen eine offizielle Ehrung. Die Kronprinzessin erlebte einen begeisterten Empfang: besonders die reichsdeutschen Einwanderer waren selbst im Urwald "kaisertreu" geblieben.

 

Hakenkreuze am Paraná

 

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war die Zahl der Deutschsprachigen in Misiones bereits beträchtlich angestiegen. Für das Jahr 1937 werden 10.000 Reichsdeutsche für Misiones angegeben, und ein Kongreßbericht des Jahres 1941 nennt gar 39.000 Deutschsprechende, d.h. mehr als 20 Prozent der Territoriumsbevölkerung. In keiner Provinz Argentiniens wird eine höhere Ziffer erreicht. Dieser Zustrom schuf die Masse, die notwendig ist, damit Institutionen auf ethnischer Grundlage auf längere Sicht lebensfähig bleiben.

 

Das Aufkommen nationalistischer Strömungen in Europa allerdings verschärfte auch am Oberen Paraná die Gegensätze zwischen den Einwanderergruppen. 1938 gründeten Polen südlich von Iguazú eine Siedlung und nannten sie Wanda, nach einer Tochter von Marschall Pilsudski. Eine direktere Einflußnahme unternahm das nationalsozialistische Deutschland in Misiones - mit dem Ergebnis von Spaltungen. Die deutschen Schulen erhielten dringend notwendige Subventionen und zeigten im Gegenzug bald das Hakenkreuz. Zentrum der NS-Aktivitäten in Misiones war Eldorado, dessen Einwohner vorwiegend Emigranten der frühen Weimarer Republik waren. Das "Neue Deutschland" war für sie sehr attraktiv: es hatte die Probleme des Weimarer "Sumpfes", des demokratischen "Systems" gelöst und sich wirtschaftlich und politisch zu einer Weltmacht emporgearbeitet. Viele dachten an Rückwanderung. Der Stützpunktleiter der NSDAP besaß eine derart starke Position, daß er gegen den deutschen Konsul in Posadas beim Auswärtigen Amt offiziellen Protest einlegen konnte, und die Wilhelmstraße reagierte. Mehrfach mußte sich der Staatssekretär des AA, von Weizsäcker, mit der Situation am Oberen Paraná befassen.

 

Und trotzdem versagte die intendierte Gleichschaltung. Anders, als in Buenos Aires, wo heiße Zuneigung zum nationalsozialistischen Deutschland und bitterer Haß die Deutschsprachigen in zwei Lager spaltete, war in Misiones Indifferenz die mehrheitliche Reaktion. Vor allem die Teuto-Brasileiros besaßen schon längst keinen Bezug mehr zu Deutschland, und seine Probleme und Leistungen waren ihnen fremd. Ihre Heimat war Südbrasilien. Deutschland war für sie ein mythischer Begriff, das Land der Vorväter, dessen man sich in Legenden erinnerte.

 

Realität war es nicht.

 

Die Auslandsorganisation der NSDAP besaß in Misiones 68 Mitglieder, die z.T. sehr aktiv waren und deren Tätigkeit von Polizei, Presse und Politik genau beobachtet wurde, doch ihr tatsächlicher Einfluß war gering. Die schweizerische Gemeinschaft stellte sich bis auf wenige Ausnahmen gegen die nationalsozialistische Ideologie. Dem Nationalsozialismus am Alto Paraná gelang es mithin nicht, die Deutschsprachigen zusammenzuschweißen, im Gegenteil, er spaltete sie und förderte damit den Partikulargeist der einzelnen Gruppen.

 

Die deutsche Kolonisation in Misiones war im Vergleich zu anderen Siedlungsprojekten vor allem deshalb langfristig so erfolgreich, weil verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Fähigkeiten einander unterstützten. Eine Verschmelzung hingegen fand nicht statt. Das langsame Hineinwachsen der Einwanderer über mehrere Generationen in das Gastland, das mit der Zeit zum Heimatland wurde, ist ein Beispiel für eine organische Integration, die in menschenarmen und staatsgewaltfernen Regionen eher Erfolg versprach als eine schnelle Assimilation, da Assimilation ein Prozeß mit anderer Richtung und damit mit anderem Verlauf ist, der in der Aufgabe alter Bindungen zu neuen Bindungen strebt, Integration hingegen das überkommene Erbe den neuen Gegebenheiten anpaßt.

 

Gegenüber der starken Assimilationskraft der angelsächsischen Länder, die eine schnelle Einverleibung der deutschen Einwanderer zur Folge hatte, besitzt Lateinamerika kein Pendant. Tatsächlich ist eine gegenläufige Tendenz zu beobachten: da die deutschen Einwanderer in der Regel die Kultur und Mentalität der Einheimischen als sehr fremd empfanden, schotteten sie sich gegen Assimilationstendenzen ab. Man schloß sich zu Gemeinschaften zusammen, in denen man nicht nur die Sprache pflegte, sondern auch das Miteinander sozial organisierte.

 

Eheschließungen erfolgten weitgehend untereinander. Soweit es möglich war, wurden Beziehungen zur jeweiligen Heimat noch lange aufrecht erhalten. In dem Bewußtsein, mehr zu sein und mehr zu leisten, wachte man über die Exklusivität der eigenen Gemeinschaft. Dies gilt um so mehr für abgeschlossene Siedlungen und Sprachinseln jenseits der Metropolen.