Von der Diktatur zur Demokratie.

Portugiesisches Theater im Wandel

von Wilfried Floeck

Die Portugiesen zehren bekanntlich mit Vorliebe von ihrer großen politischen und kulturellen Vergangenheit. Das gilt auch für das Theater, das in Portugal auf keine große nationale Tradition zurückblicken kann - mit einer Ausnahme freilich: dem genialen Werk von Gil Vicente, der am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit eine Reihe von Dramen verfaßte, die bis heute in immer neuen Inszenierungen gespielt und nostalgisch beschworen werden. An die Größe seiner Anfänge hat das portugiesische Theater bis heute nicht mehr heranreichen können. Immerhin entstand im Vorfeld der Nelkenrevolution von 1974 ein politisches Oppositionstheater und fand mit dem Teatro Independente zugleich eine institutionelle Erneuerung statt, die seit Ende der sechziger und vor allem in den siebziger Jahren zu einem hoffnungsvollen Aufbruch führte, der allerdings in den achtziger Jahren wieder weitgehend versandete. Erst in den letzten Jahren lassen sich sowohl im öffentlichen als auch im privaten Theaterbereich neue Impulse beobachten, die für die künftige Entwicklung des Theaters in Portugal zu neuer Hoffnung Anlaß geben.

 

Teatro Independente und politisches Oppositionstheater

 

Die institutionelle Basis des portugiesischen Theatersystems war unter dem Regime Salazars äußerst prekär. Ein öffentliches Theater mit entsprechender staatlicher Unterstützung existierte so gut wie gar nicht. Das aus der Romantik hervorgegangene Lissabonner Nationaltheater D. Maria II wurde nach einem Brand im Jahre 1964 geschlossen und erst 1978 wieder eröffnet. Die privaten Bühnen im spielten vornehmlich seichtes Unterhaltungs- und Evasionstheater, wobei französische Boulevardkomödien und die ‘revista à portuguesa’, die portugiesische Form des Revuetheaters mit operetten- und musicalhaften Elementen, dominierten.

 

Allerdings entwickelten sich in der Zeit des Salazar-Regimes ausgehend von studentischen Theatergruppen in Lissabon und Porto neue Impulse, die zu einer allmählichen Entstehung professioneller unabhängiger Theatergruppen führten und nach dem Tod Salazars zu einer regelrechten Theaterbewegung anschwollen. Gleichzeitig entstand in den sechziger Jahren eine anspruchsvolle dramatische Textproduktion, in der neben existentialistischen in wachsendem Maße politische und soziale Themen gestaltet wurden und in der sich der Einfluß Brechts zunehmend bemerkbar machte. Dramatiker wie Alves Redol (1911-1960), Romeu Correia (1917-1996), Bernardo Santareno (1920-1980), Luiz Francisco Rebello (*1924), Luís de Sttau Monteiro (1926-1993) und José Cardoso Pires (*1925) gehören zu den bekanntesten Vertretern dieser Richtung. Vor allem Santareno, Rebello und Sttau Monteiro verstanden ihr dramatisches Werk als Instrument der Opposition gegen das herrschende Regime und standen daher unter erheblichem Druck der staatlichen Zensur.

 

Nach der Nelkenrevolution konnten sich diese Ansätze einer Theaterreform voll entfalten. Die Aufhebung der Zensur im Jahre 1974 und die demokratische Verfassung von 1976 befreiten auch das Theater von den Fesseln der politischen Überwachung und führten zu einer enthusiastischen Aufbruchstimmung unter den freien Gruppen. Der Begriff Teatro Independente wurde aus Spanien übernommen, wo Ende der sechziger Jahre unter ähnlichen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen eine vergleichbare Theaterbewegung entstanden war. Das Unabhängige Theater richtete sich gegen das kommerzielle Konsumtheater und dessen konventionelle Ästhetik, gegen die Normen der bürgerlichen Gesellschaft und gegen die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen des Estado Novo. Zu seinen Forderungen gehörten ferner die Propagierung eines Volkstheaters und das Bemühen um ein entsprechend breit gefächertes Publikum, die Suche nach neuen ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten, die Ablehnung eines literarischen Text- und Autorentheaters, die Suche nach unkonventionellen Spielstätten sowie das Bemühen um Professionalisierung und Dezentralisierung der Theaterarbeit. Die Gruppen bemühten sich vielfach darum, ihre demokratischen Vorstellungen sowohl in ihrer eigenen genossenschaftlichen Organisation als auch in einer gemeinsamen Erarbeitung der Theaterproduktion zu verwirklichen, was in den siebziger Jahren zur Blüte der ‘criações colectivas’, der Gemeinschaftsproduktionen, führte. Vor 1974 entstanden die Kollektive Grupo 4 (1967) und Os Bonecreiros (1971-1977) sowie die Gruppe A Comuna (1973) unter der Leitung von João Mota und das Teatro da Cornucópia (1973) unter der Leitung von Jorge Silva Melo und Luís Miguel Cintra. Nach der Nelkenrevolution bildeten sich neue Gruppen wie O Bando (1974) unter der Leitung von João Brites, das Teatro Hoje (1975) unter der Leitung von Carlos Fernando und Gastão Cruz, A Barraca (1975) unter der Leitung von Maria do Céu Guerra und Hélder Costa sowie das von José Blanco Gil geleitete Teatro Ibérico (1980). Mit Ausnahme der Bonecreiros und des Teatro Hoje sind alle genannten Gruppen bis heute aktiv und bestimmen nach wie vor das aktuelle Lissabonner Theaterleben. Der Grupo 4 ist 1982 teilweise im Novo Teatro aufgegangen, das heute von einem Viererkollektiv geleitet wird.

 

Bei aller Gemeinsamkeit besitzt jede Gruppe ihre eigenen Akzente. Der Brook-Schüler João Mota versteht seine Arbeit als ein ‘teatro de pesquisa’, in dem Körpersprache und kollektives Experimentieren der Schauspieler vorherrschen. A Barraca versteht sich als politisch engagiertes, volksnahes Theater, das mit Vorliebe an das Volkstheater Gil Vicentes anknüpft. Auch der Maler und Theatermacher João Brites hat sich dem ‘teatro popular’ verschrieben, wobei er an seine Produktionen freilich höhere ästhetische Ansprüche stellt als Hélder Costa. Neben gesellschaftskritischen Themen dramatisiert Brites mit Vorliebe alte Volksmythen oder bearbeitet Prosatexte für die Bühne. Daneben hat O Bando auch eine Reihe von Kinder- und Jugendstücken produziert. Der Grupo Novo sieht sich nicht nur dem internationalen Repertoire verpflichtet, sondern bemüht sich zugleich um die jährliche Uraufführung eines portugiesischen Gegenwartsautors. Darüber hinaus hat sich die Gruppe vor allem mit dem Brecht-Spezialisten João Lourenço um die Vermittlung deutschsprachiger Dramatiker verdient gemacht. A Comuna und A Barraca sind die international wohl bekanntesten Gruppen, die auf zahlreichen internationalen Theaterfestivals aufgetreten sind. Die Gruppe mit dem höchsten ästhetischen Niveau aber ist zweifellos das Teatro da Cornucópia, dessen Leiter Luis Miguel Cintra wohl einer der ganz wenigen portugiesischen Regisseure (und Schauspieler) von internationalem Rang ist.

 

Die Konzepte von Regietheater und Gemeinschaftsproduktion waren für die Entwicklung eines anspruchsvollen Autoren- und Texttheaters allerdings nur wenig förderlich. Hinzu kam, daß die freien Gruppen mit wenigen Ausnahmen vornehmlich auf das internationale Repertoire oder auf nichtdramatische Vorlagen zurückgriffen. Obwohl die Dramatiker selbst daher kaum von der nachrevolutionären Aufbruchstimmung profitierten, kann doch allgemein von einem erheblichen Auftrieb des portugiesischen Theaters in den Jahren nach der Nelkenrevolution gesprochen werden.

Die Krise der achtziger Jahre

Allerdings war die Euphorie wenige Jahre später wieder verflogen und einer allgemeinen Resignation und Frustration gewichen. Fehlende Infrastruktur, rückläufiges Publikumsinteresse, mangelndes Niveau, die Selbstisolierung der Gruppen und die Verkrustung bestehender Strukturen, die allgemeine ideologische Desillusionierung, die Konzeptionslosigkeit staatlicher Kulturpolitik sowie vor allem die unzureichende finanzielle Absicherung der Gruppen hatte zu einer tiefen Theaterkrise geführt, die bis in die frühen neunziger Jahre anhielt.

 

Nach der Nelkenrevolution hatte die neue demokratische Regierung sich bemüht, ein neues Konzept für Kulturförderung zu entwickeln und Strukturen zur Förderung des kulturellen Aufschwungs zu schaffen. Der Versuch, ein allgemeines Theatergesetz zu schaffen, scheiterte freilich ebenso rasch wie die Erarbeitung eines kohärenten Konzepts für eine konsequente und kontinuierliche Theaterpolitik. Man begnügte sich mit Erlassen zur Subventionspolitik, die die Unterstützung der freien Gruppen regelten. Bei allem guten Willen der neuen demokratischen Regierung darf nicht übersehen werden, daß die finanzielle Unterstützung des Theaterwesens durch den Staat infolge der fehlenden Tradition einer staatlichen Kulturpolitik und der ökonomischen Schwäche des Landes auch nach 1974 so bescheiden ausfiel, daß eine grundlegende Veränderung der Theatersituation kaum möglich war.

 

Lissabon und die Provinz

 

Neue Impulse hatte die Nelkenrevoltion auch für eine Belebung des Theaters in der Provinz mit sich gebracht. Das portugiesische Theater war seit jeher auf die Hauptstadt konzentriert; die Provinz war bis in die achtziger Jahre hinein mit wenigen Ausnahmen in Porto und Coimbra "eine reine Theaterwüste", wie es Rebello einmal formulierte. Nach der Nelkenrevolution erarbeiteten vor allem Norberto Ávila und Mário Barradas ein Konzept für eine Politik der Dezentralisierung, die mit der Eröffnung des Centro Cultural de Évora (CCE) am 11. Januar 1975 ihre erste praktische Umsetzung erlebte. Es folgten Gründungen sowohl im näheren Umkreis von Lissabon als auch in der Provinz. Neben der Zentralregierung engagierten sich auch die Gemeinden zunehmend in der Unterstützung der Theatergruppen in den Provinzstädten. Allerdings verflog auch in diesem Bereich die Euphorie der Gründungsjahre relativ schnell. Immerhin fließen heute mehr öffentliche Mittel an die Provinztheater als an die freien Gruppen der Hauptstadt. Bei allen Unzulänglichkeiten hat die Dezentralisierungsbewegung in den achtziger und neunziger Jahren doch unbestreitbar zu einer erheblichen Ausweitung und Bereicherung der portugiesischen Theaterlandschaft beigetragen.

 

Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Einrichtung von Theaterfestivals, die sowohl den Kontakt zu internationalen Gruppen als auch den Austausch innerhalb des Landes pflegen. Eines der ersten und zugleich bedeutendsten war das 1978 ins Leben gerufene Festival Internacional de Teatro de Expressão Ibérica (FITEI), das portugiesische, afrikanische, spanische und lateinamerikanische Gruppen in Porto zusammenführt. Die augenblicklich bedeutendste internationale Theaterschau aber ist das 1983 gegründete Festival Internacional de Teatro de Almada (FITA). Nicht zuletzt sind die für das portugiesische Theater unschätzbaren Aktivitäten der Gulbenkian-Stiftung zu nennen, die das Teatro Independente schon zu den Zeiten des Estado Novo großzügig unterstützte und die sich auch heute noch mit erheblichem finanziellen Aufwand für das Sprach- und Tanztheater engagiert. Im Theatersaal der Gulbenkian-Stiftung, die sich vor allem der Förderung junger Regisseure und Dramatiker verschrieben hat, sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe interessanter Inszenierungen zeitgenössischer portugiesischer Autoren verwirklicht worden.

 

Die neunziger Jahre: von der Krise zu neuen Impulsen

 

Nach der Stagnation der achtziger Jahre sind seit Anfang der neunziger Jahre erneut Veränderungen zu beobachten, die dem portugiesischen Gegenwartstheater neue Impulse zu verleihen scheinen. Vier Punkte scheinen mir hierfür von besonderer Bedeutung.

 

1. Seit einigen Jahren drängen junge, professionell ausgebildete Absolventen der Theaterschulen vor allem von Lissabon und Évora als Regisseure, Bühnenbildner, Techniker und Schauspieler in die portugiesische Theaterlandschaft und sorgen für neue Ideen und frischen Wind. Neben den in die Jahre gekommenen Grupos Independentes sind kleine alternative Theatergruppen entstanden, die neue Wege gehen. Die Dominanz von Regiearbeit, Gemeinschaftsproduktion und politisch-gesellschaftlicher Indienstnahme des Theaters ist bei ihnen eher einer Vorliebe für den dramatischen Text sowie vor allem einer Aufwertung der Arbeit des Schauspielers gewichen, dessen Professionalisierung zudem erhebliche Fortschritte gemacht hat. In der Regel sind es kleine, flexible Gruppen, die ohne größeren finanziellen Aufwand auskommen, häufig auch nicht über einen eigenen Theaterraum verfügen und auf fremde Spielstätten angewiesen sind. Mit bescheidenen Mitteln leisten sie zum Teil hervorragende Theaterarbeit. Als Beispiele seien das Teatro do Século unter der Leitung von Inês Câmara Pestana, das Teatro da Garagem unter Carlos Jorge Pessoa, die Escola de Mulheres unter Fernanda Lapa, die Casa Conveniente unter Mónica Calle sowie das Teatro Meridional unter Miguel Seabra genannt. Dabei ist auffallend, daß auch in Portugal zunehmend Frauen in führende Positionen des Theatermilieus vordringen.

 

2. Ein Generationswechsel ist auch auf seiten der Autoren zu erkennen. In zunehmendem Maße drängen junge Autorinnen und Autoren auf den Markt, die in der Regel aus dem Umfeld des Theaters stammen und über praktische Theatererfahrung verfügen. Ihre Textproduktionen sind von thematischer und ästhetischer Vielfalt geprägt, die von experimentellen bis zu neorealistischen Tendenzen reicht. Besser als der älteren Generation gelingt es ihnen, junge Publikumsschichten anzusprechen. Stellvertretend seien Autoren wie António Torrado (*1939), Eduarda Dionísio (*1946), Fernando Augusto (*1947), João Silva Melo (*1948), Francisco Pestana (*1951), Abel Neves (*1956) und Carlos Jorge Pessoa (*1966) genannt. Eine besondere Bedeutung scheint mir Luísa Costa Gomes (*1954) zuzukommen. Sie ist eine der wenigen, die nicht unmittelbar aus dem Theatermilieu stammt. Mit ihrem frech-witzigen Stück Nunca Nada de Ninguém, das am 7. November 1991 in der Sala Polivalente der Gulbenkian-Stiftung Premiere feierte, hat sie eine aktuelle, umgangssprachlich geprägte, ironisch-satirische Gesellschaftskomödie geschaffen, die das Publikum begeisterte.

 

3. Der Publikumsrückgang der achtziger Jahre scheint gestoppt. Wenn auch das Theater der neunziger Jahre keine Massen anzieht, scheint es ihm doch mehr und mehr zu gelingen, junge, neugierige und interessierte Zuschauer in die Theatersäle zu locken, wobei die allgemeine Tendenz zu politischem Desinteresse den Trend zu privater und besonders zu elitärer Kulturpartizipation fördert. Dies kommt dem Theater offensichtlich zugute.

 

4. Neue Impulse für das portugiesische Theater gehen seit einigen Jahren auch von staatlicher Seite aus. Neben der Steigerung der öffentlichen Subventionen und einer Unterstützung der Dezentralisierungsbewegung durch Zentralregierung und Gemeinden seit Anfang der neunziger Jahre sind es vor allem zwei Ereignisse, die dem öffentlichen Theater neuen Auftrieb gegeben haben: die Gründung eines zweiten Nationaltheaters, und zwar des Teatro Nacional São João in Porto im Sommer 1994 unter der Leitung von Eduardo Paz Barroso und seit 1995 Ricardo Pais, sowie die Neubesetzung der Intendanz des Teatro Nacional D. Maria II am 4. Februar 1994 mit Carlos Avilez. Damit hat die Regierung zwei Theaterleute berufen, die den Anforderungen einer Nationalbühne gewachsen sind.

 

Die Regierung selbst scheint seit dem politischen Machtwechsel im Frühjahr 1996 der Kultur- und Theaterpolitik ein vermehrtes Interesse und eine stärkere finanzielle Förderung zu widmen. Die Gründung eines eigenen Kulturministeriums belegt dies ebenso wie die Einrichtung eines Instituto Português das Artes do Espectáculo (IPAE) im Juli 1996. Vieles spricht dafür, daß die genannten Veränderungen nicht nur zu einer Wiederbelebung der Dezentralisierungsbewegung und zu einer Stärkung des öffentlichen Theaters, sondern darüber hinaus zu einer dauerhaften Verbesserung des portugiesischen Theatersystems über die Jahrhundertwende hinaus führen werden.

 

Literaturhinweise: 

Klaus Pörtl: "Skizzen zum portugiesischen Gegenwartstheater", in: Wilfried Floeck (Hrsg.), Tendenzen des Gegenwartstheaters, Tübingen: Francke 1988, S. 101-118. 

Marianne Gareis, "Theaterflaute: Das ‘teatro independente’ Portugals am Ende der achtziger Jahre", in: Lusorama, 12 (1990), S. 14-28. 

Kian Harald Karimi: Auf der Suche nach dem verlorenen Theater. Das portugiesische Gegenwartsdrama unter der politischen Zensur (1960-1974), Frankfurt/M.: Peter Lang 1991. 

Wilfried Floeck, "Das portugiesische Theaterwesen", in: Dietrich Briesemeister / Axel Schönberger (Hrsg.): Portugal heute, Frankfurt/M.: Klaus-Dieter Vervuert 1997.