Der Tango, Lacan und die unstillbare Sehnsucht

von Helena Rüegg

"Der Tango und die Psychonanalyse sind miteinander verwoben. Wie viele andere habe auch ich mich jahrelang analysiern lassen. Für uns ist das eine natürliche und instinktive Sache." (Sylvia Gaudín)

 

"Der Tango hat mit der Beziehung zwischen Mann und Frau zu tun. Da fließen Tango und Psychoanalyse ineinander über. Auf beiden Gebieten existiert etwas, das unfaßbar bleibt. Denn der Tango besitzt dieselbe Struktur, die Lacan beschreibt. Nie wird es erfüllt, immer bleibt es Phantasie und Stimulanz." (Manuel Andújar.)

 

Während aus dem Radio die Tangoklassiker der vierziger Jahre ertönen, zeigt mir der Taxifahrer, bei Tempo 100, die verschiedenen Sehenswürdigkeiten Buenos Aires - das 'Teatro Colón', einst eines der wichtigsten Opernhäuser der Welt, das 'Teatro San Martín', das sich modernen Sprech- und Tanztheater widmet und das 'Centro Cultural San Martín, in dem regelmäßig Vorträge über Freud und Lacan stattfinden. "Lacan?" frage ich erstaunt.

 

"Die meisten Leute hier sind Lacanianer", antwortet der Fahrer mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt. "Wenn sie mehr darüber wissen wollen, erkundigen Sie sich an den Kiosken an der Avenida Corrientes oder in der Subte, unserer U-Bahn. Dort verkauft man die Bücher von Freud und Lacan."

 

Als ich aus dem Taxi stieg, war mein Entschluß gefaßt, mich auf die Suche nach den argentinischen Lacanianern zu machen. Wie sich herausstellte, war das nicht nötig: auf Schritt und Tritt begegneten mir Porteños, die sich analysieren ließen, die Putzfrau einer Freundin, der Mechaniker an der Straßenecke, der Geiger eines bekannten Tango-Orchesters. Und alle gaben mir bereitwillig Auskunft über ihre Therapie-Erfahrungen.

 

Entladung einer Explosion

"Ein spezielles Phänomen ist, wie man in Buenos Aires mit der Psychonanlyse umgeht", erläutert mir der Psychoanalytiker Carlos Pérez. "Es existieren nicht nur unzählige Patienten und Psychoanalytiker, man tauscht auch liebend gerne seine Erfahrungen aus, obwohl es sich bei der Analyse ja um eine äußerst intimen Vorgang handelt." Pérez hat sich in den verschiedensten Vorträgen und Essays mit der Musik seiner Heimatstadt auseinandergesetzt. Seine jüngste Erfahrung ist ein Schreibseminar, das dem Tango gewidmet war. Er und vier andere Kollegen bearbeiteten bekannte Tangotexte, indem sie die ursprünglichen Verse durch eigene Worte ersetzten. "Ein Text ist die Geschichte einer Reise zwischen dem Augenblick der Inspiration und dem Zeitpunkt des Aufschreibens. Inspiration ist unreflektierter Genuß. Erst wenn sich diese Empfindung verliert, ist man in der Lage, sie zu beschreiben und sich damit auf die Suche nach dem verlorenen Paradies zu machen. Die menschliche Existenz beruht auf der Erfahrung des Verlustes, den auch der Tango immer wieder beschreibt. Und da uns gerade diese Lieder so zu eigen sind wie Fleisch und Blut, wollten wir uns in unserem Schreibseminar damit auseinandersetzen."

 

Die Tango-Sängerin Sylvia Gaudín hat eine Erklärung, warum das Mitteilungsbedürfnis Oberhand gewinnt über die Intimsphäre. "Es macht uns Spaß, uns über unsere Seelenzustände und unsere Leiden zu unterhalten. Wir haben schlimme Jahre hinter uns, und während der Diktatur war es lebensgfährlich, seinen Mund aufzumachen. Darum entladen sich jetzt all diese aufgestauten Gefühle wie eine Explosion."

 

"Unser Interesse an der Psychoanalyse beruht auf demselben Phänomen, das den Tango hervorgebracht hat", behauptet der argentinische Psychoanalytiker Luis Fau, der sich in seiner Doktorarbeit mit dem Verhältnis von Tango und Psychoanalse beschäftigt hat. "Um die Jahrhundertwende wanderten unzählige Europäer, vor allem Spanier und Italiener, aber auch Franzosen, Deutsche, Schweizer, Polen und Russen nach Argentinien aus. Sie waren mit dem Versprechen angelockt worden, hier neues, besseres Land zu finden und weiterhin als Bauern ihren Lebensunterhalt verdienen zu können.

 

Das Gefühl des Verlustes

 

Doch die fruchtbaren Gebiete in der Provinz Buenos Aires waren seit langem in den Händen der Oligarchie, und da die wenigsten Immigranten das Geld für die Rückreise besaßen, mußten sie in Buenos Aires bleiben und in den Conventtillos, den armseligen Mietwohnungen, den doppelten Verlust verkraften (den sie erlebt hatten): den Verlust der Heimat und den Verlust ihrer sozialen Lebensumstände. In den Innenhöfen dieser Mietskasernen, in denen sich die verscheidensten Sprachen und Kulturen miteinander vermischten, entstand die Musik, die bis heute mit Buenos Aires identifiziert wird: der argentinische Tango.

 

Es liegt auf der Hand, daß auch die Tangolieder immer wieder das thematisieren, was die Imigranten beschäftigte: den Verlust, den Verlust der Jugend, der Geliebten und der Mutter, ein Synonym für die verlorene Heimat. Die Söhne und Enkelkinder der europäischen Einwanderer erbten die Sehnsucht ihrer Vorfahren nach der verlorenen Heimat. Doch da sie deren Heimat nie kennen gelernt, geschweige denn verloren hatten, verwandelte sich ihre Sehnsucht in ein unstillbares Verlangen. Und so begannen diese Generationen, auf der Suche nach einer Identität, sich für die Psychoanalyse zu interessieren, ein Interesse, das bis heute andauert." Auch für den Psychonanalytiker Manuel Andújar aus dem nordargentinischen Tucumán. Da er ein leidenschaftlicher Tangotänzer ist, reist er einmal pro Monat in die 1000 km entfernte Hauptstadt. Tagsüber empfängt er Patienten, und nach getaner Arbeit begibt er sich in einen der zahlreichen Tangosalons, um die Nacht zu vertanzen. Und daß er einen seiner Patienten auf der Tanzfläche wiedertrifft, ist durchaus nicht ungewöhnlich. Weil an verschiedenen Krankenhäusern von Buenos Aires kostenlsoe Therapien angeboten werden, können es sich auch die Armen leisten, die Hilfe eines Psychologen in Anspruch zu nehmen. Wie zum Beispiel der Automechaniker Miguel, der bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr einer der besten Milongueros, Tangotänzer, von Buenos Aires war. Was ihm der Tango bedeutet, erzählt er mir in seiner Werkstatt, die seit Monaten leer steht: "Der Tango redet von deinem Mädchen, deinem Viertel, deiner Mutter. Er ist wie ein Bruder: du bittest ihn um Geld, wenn du keines hast, du fragst ihn um Rat, du sprichst mit ihm wie mit dir selber."

 

Der Grund, warum Miguel nicht mehr tanzt, ist einfach. Er kann sich keinen neuen Anzug leisten. Der Zweiundsechsigjährige war schon bei zahlreichen Ärzten und Psychoanalytikern, um seinen Schwindelanfällen, Depressionen und seiner Schlaflosigkeit Herr zu werden. Doch Miguel braucht keine Therapien. "Wenn ich Arbeit hätte, wäre ich schlagartig wieder gesund. Vor ein paar Wochen wurde mein jüngster Sohn neun Jahre alt, und ich konnt ihm keine Geburtstagstorte kaufen. Es wird Abend, und du kannst deinen Kinderen noch nicht einmal einen Teller Suppe hinstellen. Da hilft dir weder der Tango noch die Psychoanalyse."