Poesie oder Verklärung?

Peter Wittes spanischer Bilderbogen

von Gunnar Nilsson

Eigentlich war der 1933 in Gießen geborene Peter Witte aus ganz anderen Gründen nach Spanien gekommen. Der vor allem auf Kunstdenkmäler spezialisierte Fotograf siedelte 1965 nach Madrid über, um für das Deutsche Archäologische Institut wissenschaftliche Aufnahmen zu machen. Diese Arbeit ließ ihn in den kommenden Jahren die gesamte iberische Halbinsel bereisen, Reisen, von deren Früchten verschiedene Publikationen des Instituts - Hispania Antigua oder der Katalog der antiken Skulpturen - zeugen.

 

Doch Peter Witte beschränkte sich nicht auf seine beruflichen Aufgaben. Immer wieder richtete er seine Kamera auf 'Land und Leute' und verarbeitete seine Eindrücke in Artikeln, Reportagen und Fotoausstellungen. "Archäologische Fotografie", liest man dazu in seinem bei Vervuert herausgegebenen Fotoband Adiós España Vieja, "bedeutet Reisefotografie". So ist auch Adiós España Viejazu einem fotografischen Dokument des Reisens geworden; einerseits zu einem Dokument der zahlreichen Reisen des Fotografen selbst, auf der anderen Seite aber zu einem Dokument des Reisens in der Zeit. Denn mit dem Aufschlagen der ersten Seiten des Buches reisen wir als Leser 30 Jahre zurück in das 'alte' Spanien: "España Vieja".

 

In schlichtem Schwarzweiß gehaltene Tafeln zeigen Alltagsszenen, wie sie im Spanien der 60er an jeder Straßenecke zu beobachten waren, Szenen, die zwar nicht selten, selten aber so einfühlsam auf Zelluloid gebannt wurden: Andalusische Landarbeiter, die während der Siesta in der Sonne dösen, ein Zug Novizen in Toledo, deren verschiedene Haltung und Größe schon fast komisch wirken muß, ein Nachmittag im Retiro-Park oder auch Juan Carlos und Sofía bei einer Plauderei während einer Gastrede Konrad Adenauers.

 

Wittes Buch ist ein poetisches, deshalb aber nicht weniger informatives Buch. Das Große steht neben dem Kleinen, dem Unscheinbaren wird Bedeutung beigemessen und das scheinbar Bedeutende wird nicht selten relativiert. So gewinnt eine Lehmhütte an Interesse, wenn die Bildunterschrift über Vorzüge des Baumaterials informiert, und ein anderes Bild ironisiert Francos Parteiblatt Arriba, das hier zu einem simplen Sonnenschutz umfunktioniert wurde.

 

Daneben ist das Buch Potpourri und Bilderbogen. Einerseits mischt es die Szenen und Anlässe, stellt Motive von eher graphischem Interesse - eine Häuserwand, ein Weizenfeld ... - neben Bilder informativen Charakters, wie zum Beispiel die Fernsehansprache des Königs im November 1975. Andererseits bewegt es sich Seite für Seite in der Zeit voran und zeigt den Wandel eines Landes von der Diktatur in die Demokratie und in der Demokratie: die Zeitungsstände am Todestag Francos, Adolfo Suárez, die später gewonnene sexuelle und religiöse Freiheit oder die von der EU finanzierten Restaurationsarbeiten in den 80er Jahren.

 

Wittes Bilder sind selten direkt anklagend, der Impetus einer mit krassen Gegensätzen arbeitenden Pressefotografie fehlt ihnen völlig. Ihre Botschaft ist die eines bedachten, distanzierten, aber nicht beteiligungslosen Beobachters. Witte verschweigt keineswegs Kritik - weder an der alten Zeit, noch an der neuen -, er kleidet sie in unaufdringliche Ironie: Die genannten Novizen aus der Francozeit sprechen ebenso für sich wie eine zum Jagdrevier umfunktionierte Müllhalde.

 

Angesichts dieses Eindrucks ist es gänzlich unverständlich, wie Witte seinem insgesamt sehr gelungenen Werk einen derart mißverständlichen Titel geben konnte. "Adiós España Vieja" muß dem Leser wie ein wehmütiger Nachruf auf alte Zeiten erscheinen, der im günstigsten Fall keine Entsprechung in seiner Bildsprache findet. Ein argwöhnischer Kritiker könnte der gesamten Arbeit angesichts des Titels weitaus mehr unterstellen: eine Verklärung einer gar nicht so idyllischen Vergangenheit.

 

Peter Witte: Adiós España Vieja. (Gestaltung: Angelika Völker). Frankfurt/Madrid, Vervuert/Iberoamericana, 1996. 128 Seiten. 68,00 DM