Der "Große Oberst” und seine Bilder

Ein Porträt des mexikanischen Muralisten David Alfaro Siqueiros

von Hilde Regeniter

David Alfaro Siqueiros (1896-1974): seinerzeit im Osten gefeiert als Musterkünstler des sozialistischen Realismus, als Verfechter der "einzig wahren revolutionären Kunst”, im Westen geschmäht als dogmatischer Propagandamaler, als verhinderter Trotzki-Attentäter und als unbelehrbarer Kommunist und Störenfried.

 

Sein Leben lang war Siqueiros Politiker und Künstler. Er gehört neben Diego Rivera und José Clemente Orozco zu den "drei Großen der mexikanischen Wandmalerei”, die in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts eine regelrechte Renaissance der Kunst in Mexiko einläuteten. Nach der Revolution wollten sich die Muralisten endgültig vom übermächtigem Einfluß der ehemaligen Kolonialmacht lossagen, sie wollten endlich aufhören, den gängigen europäischen Vorbildern nachzueifern und stattdessen zu einer eigenständigen künstlerischen Identität der lateinamerikanischen Länder finden. Aus Anlaß seines 100-jährigen Geburtstages beehrte das Museo Nacional de Arte de la Ciudad de México den umstrittenen Maler 1996 mit der Ausstellung "David Alfaro Siqueiros. Porträt eines Jahrzehnts1930 - 1940.”

 

1896 geboren erlebte Siqueiros in seiner Jugend in Mexiko mit der Revolution das Ende der langen Diktatur des Porfirio Dìaz, er kämpfte ab 1914 in der Armee der Konstituionalisten und wurde 1918 als Militärattaché Mexikos nach Europa geschickt. Dort lernte er in Paris seinen Landsmann, den Maler Diego Rivera, kennen. Nächtelang diskutierten sie über Siqueiros` revolutionäre Erlebnisse. Der zehn Jahre ältere Rivera vermittelte Siqueiros die konstruktivistischen Tendenzen in der damaligen Kunsthauptstadt, er stellte ihm bedeutende Künstler wie Matisse, Modigliani und Picasso vor. Schon in dieser Pariser Zeit zeichneten sich die Grundgedanken der späteren mexikanischen Wandmalerei-Bewegung ab: Der Revolution im politischen und ökonomischen Bereich mußte ebenso eine Revolution der Ästhetik folgen. Die Kunst sollte zu einer Kunst für das ganze Volk werden. Dazu mußte sie aus den bürgerlichen Wohnungen heraus in die Öffentlichkeit getragen werden, sie mußte für jeden zugänglich gemacht werden. In diesem Sinne schien den mexikanischen Künstlern das Wandbild mit seinem großflächigen Format das geeigneteste Medium als "demokratische Kunstform” zu sein, das "typisch kleinbürgerliche” Staffeleibild hingegen verwarfen sie.

 

Als Rivera und Siqueiros Anfang der 20er Jahre in ihr Heimatland zurückkehrten, erhielten sie vom damaligen Minister für Volksbildung José Vasconcelos, dem "Medici der mexikanischen Renaissance” Aufträge für die Ausmalung riesiger Wandflächen in öffentlichen Räumen. Zu den Muralisten der ersten Stunde gehörten weiter der bereits erwähnte Orozco und eine Gruppe junger Mexikaner wie Fermín Revueltas und Fernando Leal. Im Jahr 1923 schuf Siqueiros für das Deckengewölbe und den Treppenaufgang der "Escuela Nacional Preparatoria” mit "Die Elemente” und "Die Mythen” seine ersten Wandgemälde. Die Gründung der "Gewerkschaft der technischen Arbeiter, Maler und Bildhauer Mexikos” fällt in das gleiche Jahr. Siqueiros fungierte als Generalsekretär der neuen Vereinigung, deren Zeitschrift "El Machete” sich schnell zum zentralen Organ der Kommunistischen Partei Mexikos entwickelte. 1924 trat Siqueiros auch der Partei selbst bei, der er als überzeugter Kommunist und Stalinist bis an sein Lebensende verbunden blieb.

 

Kaum hatten die Muralisten begonnen, ihre theoretischen Gedanken zur Demokratisierung der Kunst in die Praxis umzusetzen, kam es auch schon zu heftigen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie denn nun diese neue Wandmalerei auszusehen habe.

 

Siqueiros war mit seinen Forderungen nach einer Revolution der Kunst in der Form am radikalsten. Er kritisierte Rivera für dessen Verhaftetsein an byzantinische Traditionen und später für seinen angeblichen "Bauernkult” und übertriebenen "Primitivismus”. Rivera produziere anheimelnde Indianerkunst für den touristischen Export und sei damit zu einem Maler für nordamerikanische Millionäre geworden. Rivera konterte: "Diego malt und Siqueiros redet.”

 

Siqueiros hängte für einige Jahre die Kunst an den Nagel, um sich ganz seinen politischen Aktivitäten zu widmen. Er gründete weitere Gewerkschaften, organisierte Streiks und setzte sich insbesondere für die Minenarbeiter ein. So geriet er immer wieder in Konflikt mit den unterschiedlichen nachrevolutionären Regierungen, wurde mehrmals zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt und mußte immer wieder in unterschiedlichen amerikanischen Ländern Exil suchen. Währdendessen spitzte sich die Kontroverse Siqueiros-Rivera zu. Hatte es sich zuvor hauptsächlich um künstlerische Differenzen gehandelt, so klafften ihre Ansichten jetzt vermehrt auch in politischer Hinsicht auseinander. Siqueiros, der 1940 den ersten Anschlag auf Trotzki organisieren sollte, hatte Rivera schon früh heftig für seinen Trotzkismus kritisiert und begrüßte es, als sein Künstlerkolloge 1929 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde.

 

Berühmt geworden ist Siqueiros' "Experimenteller Workshop zur Erprobung neuer Materialien und Techniken” aus der Zeit seines Exils Anfang der 30er Jahre in New York, an dem auch der junge Jackson Pollock teilnahm. Seiner Überzeugung getreu, daß eine neue Kunst nach neuen, zeitgemäßen Materialien verlange, verwendete er von dieser Zeit an für seine Werke in erster Linie Nitrozelluloselacke wie Pyroxilin oder auch Silikon. Früh erkannte Siqueiros die Macht der Massenmedien und wollte seine Wandbilder in ähnlich propagandistischer Funktion einsetzen.

 

Allein Titel wie "Proletarisches Opfer” (1933), "Geburt des Faschismus” (1936) oder "Neue Demokratie” (1945) zeigen den stets erhobenen politischen Zeigefinger, der hinter den Malereien steht. Die Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg, an dem er auf Seiten der Republikaner teilgenommen hatte, spiegelt sich in den Bildern "Niedergeworfen, aber nicht besiegt.” (1939) und "Das Schluchzen” (1939).

 

Um im Stadtbild nicht völlig unterzugehen, mußte die Wandmalerei Siqueiros' Meinung nach dynamisiert werden. So bemühte er sich verstärkt um die Darstellung von Bewegung und versuchte ein Korrespondenzverhältnis zwischen dem Bild und dem sich bewegenden Betrachter zu ermöglichen. So erklärt sich, daß viele seiner Werke futuristisch anmuten, beispielweise das zwischen 1964 und 1971 entstandene "Der Marsch der Menschheit”.

 

Ein weiteres seiner Anliegen war es, Architektur und Malerei so aufeinander zu beziehen, daß aus der Verbindung beider ein Gesamtkunstwerk entstehen sollte. So prägte Siqueiros auch den Begriff der "esculto-pintura”, der "Skulputur-Malerei”, unter dem er verstand, den gemalten Figuren eine solche Plastizität zu verleihen, daß sie gleichsam eine dritte Dimension annehmen. Eindrucksvolles Beispiel: das Wandbild "Das Volk in die Universität, die Universität dem Volke” (1952-56), in dem die riesenhaften Figuren der Studenten förmlich aus der Bildfläche herauszutreten scheinen.

 

Während seines letzten und längsten Gefängnisaufenthaltes von 1960 bis 1964 verfaßte der Maler seine Autobiografie "Man nannte mich den 'Großen Oberst`”, deren Titel an das Selbstbildnis "El Coronelazo” (1945) erinnert. Siqueiros, wie er sich selbst sah. Den Arm mit fast zur Fausten geballten Fingern kraftvoll nach vorne gestreckt, ein Ausdruck höchster Tatbereitschaft und Energie. Siqueiros Bilder sprechen eine kraftvolle Sprache, ob man sie mag oder nicht. Gigantisch, bombastisch und oft brutal nehmen sie den Betrachter nicht unbedingt auf den ersten Blick für ihren Schöpfer ein. Man kann Siqueiros zweifelsohne eine politische Kompromißlosigkeit vorwerfen, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckte: den "Verräter” Trotzkij hatte er schließlich bedenkenlos aus dem Weg räumen wollen. Was sein Verhältnis zu Stalin angeht, ist es sicher auch gerechtfertigt, von dogmatischer Verblendung zu sprechen. Eins aber steht fest: D.A. Siqueiros hat nie zu der großen Herde lauwarmer Mitläufer gehört, in der Kunst ebensowenig wie in der Politik. Sein gesamtes Leben und sein Werk stehen unter dem Zeichen eines unerbittlichen Engagements. Ein Ausschnitt aus seinem Schaffen war dem bundesdeutschen Publikum zum ersten Mal 1995 in Düsseldorf in der vergleichenden Ausstellung ”Siqueiros-Pollock, Pollock-Siqueiros” zugänglich. Auch in der 100-Jahres-Ausstellung in Mexiko wurde 1996 vieles zum ersten Mal gezeigt. Siqueiros hat - wenn auch keine grenzenlose Zustimmung - so doch zumindest eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Kunst verdient.