Eine kurze Geschichte des Tango

von Helena Rüegg

Herkunft und Ursprung des argentinischen Tango sind Gegenstand heftiger Diskussionen und zum Teil abenteuerlicher Theorien. Als Beispiel sei nur Eduardo S. Castillas These genannt, nach der das Wort "Tango" aus dem japanischen stammt und der Tanz von japanischen Einwanderern auf Kuba erfunden wurde. Sicher ist, daß der argentinische Tango Elemente von Habanera, Milonga und Tango andaluz übernommen hat. Auch die Extrempositionen mancher Autoren, die nur jeweils eine dieser Formen als Ursprung für den argentinischen Tango gelten lassen wollen, fügen sich zu diesem Bild zusammen.

 

Die Habanera ist ein kubanischer Tanz, der den La-Plata um 1860 erreichte. Etwa 10 Jahre früher entstand der Tango andaluz, der in Buenos Aires vor allem über das Volkstheater verbreitet wurde. Im selben Zeitraum entstand in Uruguay und Argentinien die Milonga, eine im Ursprung ländliche Musik, in der sich spanische Melodien mit afrikanischer Rhythmik verbanden.

 

Was Anfang des letzten Jahrhunderts in Buenos Aires geschieht, hatte es in der Geschichte des Tanzes noch nie gegeben: Der Tanz wird zum 'abrazo', zur Umarmung von Mann und Frau. Tango tanzt man eng umschlungen und hält immer wieder inne, was eine Spannung hervorruft, in der sich Musik und Tanz gegenseitug beeinflussen. Getanzt werden diese ersten Tangos von einfachen Trios: Flöte und Geige spielen unisono die Melodie, begleitet von einer Gitarre, die manchmal durch eine Mandoline oder eine Harfe ersetzt wird. Wo ein Klavier zur Verfügung steht, wie in den vornehmen Bordellen, wird die neue Tanzmusik auch auf diesen Soloinstrument gespielt. Und Pianisten wie Samuel Castriota und Rosendo Mendizabal beginnen, Melodien zu komponieren und aufzuschreiben im Gegensatz zu den mittelmäßigen Musikern der Tango-Trios, die schlecht und recht improvisieren und keinen eigenen Stil entwickeln.

 

Cosa de gringos

Was 'el abrazo' für den Tanz bedeutet, ist das Bandoneon für die Musik: Ein Katalysator, der den Tango zu einer Art Lebensgefühl werden läßt, wie der sich der Porteño identifiziert. Wer das erste Bandoneon um 1870 nach Buenos Aires brachte, ist unbekannt. Und obwohl das fremde Instrument erst als 'cosa de gringos', als Sache der Europäer abgetan wird, erobert es schnell seinen Platz in den Cafés und Bordellen von La boca, dem Hafenviertel von Buenos Aires. Mehr noch, es verändert den Musikstil der ursprünglichen Tango-Trios: Die fröhlichen Staccato-Melodien werden langsamer und getragener, was sicher nicht nur mit den anfänglichen technischen Schwierigkeiten der ersten Bandeonisten zu tun hat.

 

Je mehr Immigranten in Buenos Aires ankamen, in den Jahren von 1906 bis 1910 allein 850 000, desto mehr Menschen identifizieren sich mit dem melancholischen Klang dieses außergewöhnlichen Instrumentes. 1910, als Argentinien sein hundert-jähriges Bestehen feiert, nimmt der Bandeonist Vicente Greco die erste Tango-Platte auf und erschließt einen völlig neuen Markt. Zur selben Zeit macht dieser Tanz- und Musikstil in Paris und bald in ganz Europa Furore. Kein Wunder, daß er sich nun, wie so oft in der argentinischen Geschichte, auch bei der einheimischen Oberschicht durchsetzen kann. Bisher war er verpönt gewesen, da er ausschließlich mit Bordellen und Messerstechereien in Verbindung gebracht worden war.

 

Als Robert Firpo 1913 in seinem Quartett ein Klavier integriert und viele seinem Beispiel folgen, erobern immer mehr 'Orquestas típicas criollas' die Cafés von Buenos Aires. Den Musikern und Komponisten dieser 'Guardia Vieja', der alten Garde, wie Roberto Firpo, Eduardo Arolas, Agustín Bardi und Francisco Canaro, ist es zu verdanken, daß der Tango endgültig seine Anonymität verliert.

 

Die neue Garde

Nachdem Francisco Canaro 1916 auch den Kontrabaß in sein Orchester integriert hatte, entstehen bald die ersten 'sextetos típicos', in denen sich der Klang des neuen Musik-Stils besser entfaltet als in den früheren Trios und Quartetten. Ihren Höhepunkt erlebt diese Besetzung, die aus zwei Bandoneones, zwei Geigen einem Piano und einem Kontrabaß besteht, Mitte der zwanziger Jahre mit dem Sextett von Julio de Caro. Dessen Erneuerungen sind so bahnbrechend, daß die folgenden Tango-Generationen auf der Schule de Caros aufbauen, und man von diesem Zeitpunkt an von der 'Guardia Nueva', der neuen Garde, spricht.

 

Bisher hatten alle Musiker ähnlich gespielt, ohne einen eigenen Stil zu entwickeln. In den Kompositionen und Arrangements von Julio und Francisco de Caro (Geige und Piano), Pedro Maffia und Pedro Laurenz (Bandoneones) wird diese Gleichförmigkeit aufgebrochen und eine Synthese zwischen der vitalen Kraft eines Arolas oder Bardis und der romantischen Melodik von Fresedo und Cobián gefunden.

 

Dem Bandoneonisten Pedro Maffia gelingt es, die Kunst seiner Vorgänger wie Eduardo Arolas und Osvaldo Fresedo weiterzuentwickeln und die Möglichkeiten dieses Instruments voll auszuschöpfen. Sein Klang und sein Rubato-Spiel werden für viele Bandoneonisten wegweisend. Mit Pedro Laurenz zusammen, dessen Spiel durch technische Brillanz besticht, entwickelt Maffia das Bandoneón-Duospiel: Melodie und Gegenstimme.

 

Tango-Geschichte macht auch Recuerdo, eine Komposition von Osvaldo Pugliese, die Julio de Caros Sextett 1924 aufführt. Über Nacht ist der achtzehnjärige Pianist berühmt und wird mit Stücken wie La Yumba und Negracha die Entwicklung des Tangos maßgeblich beeinflussen.

Von 1923 an treten die bekannten Tango-Orchester auch im Radio und Kino auf, wo sie die Stummfilme musikalisch unterlegen. Als jedoch 1930 der Tonfilm erfunden wird und viele Orchester ihre Arbeit verlieren, gerät der Tango in seine erste Krise, die fast ein ganzes Jahrzehnt dauern wird. Nur solch etablierte Musiker wie Julio de Caro und Francisco Canaro finden regelmäßige Auftrittsmöglichkeiten. 1937 debütiert der dreiundzwanzigjährige Bandoneonist Añibal Troilo mit seinem Orchester, das aus drei Bandoneones, drei Geigen, Piano und Kontrabaß besteht und den Sänger 'Fiorentino' begleitet.

 

Entstanden war der Tango-Gesang 1918, als Carlos Gardel Mi noche triste, das erste Tango-Lied, auf Platte aufnimmt. Gardels Stimme war wie geschaffen für jene Phrasierungen, die den Tango charakterisieren. Seine Gesangskunst wurde nicht nur für alle Sänger der folgenden Generation maßgeblich. Der Bandoneonist Ciriaco Ortiz, der ebenfalls in den zwanziger Jahren bekannt geworden war, phrasiert, als ob er mit seinem Instrument singen würde. Und Añibal Troilo, der größte Bandoneonist der Tangogeschichte, der das Können von Maffia, Laurenz und Ortiz in seinem Spiel vereint, verlangt, daß in seinem Orchester nicht nur der Sänger, sondern alle Instrumente wie Carlos Gardel phrasieren.

 

Als 1940 die argentinische Industrie durch die internationale Lage einen solchen Aufschwung erlebt, daß viele Bauern in die großen Städte abwanderten, schießen über Nacht unzählige Cafés, Confiterías und Tanzlokale aus dem Boden. Der Tangotanz entwickelt sich schnell zu einer Massenveranstaltung von bis zu 2000 Personen pro Nacht. Um den akustischen Anforderungen der riesigen Säle zu entsprechen, werden die ehemaligen Sextette zu Orchestern ausgebaut. Außerdem müssen sie mit Big-Bands konkurrieren, da auch Jazz-Tanz in Mode ist.

 

Juan D'Arienzo ist der unbestrittene 'rey del compás', der König des Taktes, der die Tangotänzer begeistert. Doch auch Troilo, Pugliese, Di Sarli, Francini-Pontier, Gobbi und viele andere finden ihr Publikum. Jedes Orchester versucht, einen unverwechselbaren Stil zu entwickeln, so daß von nun an das Arrangement in den Vordergrund tritt.

 

Tango nuevo

Bisher hatten die verschiedenen Musiker die Stücke durch ihr Spiel weitgehend mitgestaltet; was sich Arrangeure wie Argentino Galván, Julian Plaza oder Astor Piazzolla ausdenken, ist jedoch so ausgefeilt, daß der Freiraum des einzelnen Interpreten immer kleiner wird. Astor Piazzolla geht bereits im Orchester von Añibal Troilo, in dem er als Banoneonist und Arrangeur arbeitet, eigene Wege. Als er Troilo 1944 verläßt, gründet er eine neue 'orquesta típica'; daß deren Klang nicht dem Publikumsgeschmack entspricht, kümmert das 'enfant terrible' des traditionellen Tangos wenig. Astor Piazzolla sucht nach neuen Klängen. 1954 fährt er nach Paris, um bei Nadia Boulanger moderne Komposition zu studieren.

 

Sie bestärkt ihn, sich mit der Musik seiner Heimat befassen, die er von Grund auf kennt. Das Oktett von Gerry Mulligan beeindruckte Piazzolla so sehr, daß er ein eigenes Oktett gründet. Dem 'Sexteto Tipico' fügt er ein Violincello und eine elektrische Gitarre hinzu. Nun steht er am Scheideweg zwischen traditionellem Tango und dem 'tango nuevo', dem neuen Tango, der die Generationen der 60er- und 70er Jahre prägen wird.

 

Als 1955 Juan Perón vom argentinische Militär gestürzt wird, schwindet die Popularität des Tangos. Die Jugend begeistert sich für Rock-Musik, und die meisten Tanz-Orchester verlieren ihr Publikum. Außer Osvaldo Pugliese, dessen Orchester bis zu seinem Tod 1995 bestehen bleibt, versucht sich die Mehrzahl der Musiker in anderen Besetzungen: 1952 gründet Añibal Troilo ein Quartett, in dem er u.a. mit dem Gitarristen Roberto Grela zusammenspielt. Argentino Galván wird von den 'All-Stars' des Jazz inspiriert und gründet das Septett 'Los Astros del Tango'. Von 1957 an spielen der Pianist Horacio Salgán und der Gitarrist Ubaldo de Lio im Duo zusammen, eine Besetzung, die sie 1960 zu einem Quintett ausweiten, dem 'Quinteto Real'. Leopoldo Frederíco, der in den Orchestern von Di Sarli, Carlo Piazzolla und Salgán mitgespielt hatte, entwickelt die Tradition des Bandoneon-Solos weiter, deren wichtigste Exponenten Máximo Mori und Julio Ahumada gewesen waren.

 

Als sich 1968 Puglieses langjähriger Bandoneonist, Osvaldo Ruggiero, mit fünf anderen Kollegen von dessen Orchesta lößt und das 'Sexteto Tango' gründet, engagiert Osvaldo Pugliese neue Musiker, die sich bei ihm einen Namen machen: Daniel Binelli, Juan-José Mosalini und Rodolfo Mederos, die heute, neben Julio Pane, zu den führenden Bandoneonisten gehören und die Musik von Buenos Aires weiterentwickelten. Wie sehr sie damit auch die argentinische Jugend zu inspirieren vermochten, zeigen die vielen neuen Tango-Gruppen, die ehemalige Schüler der 'escuela de música popular', der dortigen Tangoschule, gegründet haben.