Gabriel García Márquez

Meister der literarischen Reportage

von Klaus Jetz

 

Ein kaum vorstellbarer Bombenterror und mehrere Entführungsfälle erschüttern 1990 Kolumbien. Die Geiseln sind fast ausnahmslos bekannte Journalistinnen und/oder Persönlichkeiten des Landes: Diana Turbay, Tochter des Ex-Präsidenten Julio César Turbay, Maruja Pachón und Beatriz Villamizar, Ehefrau bzw. Schwester des Parlamentariers Alberto Villamizar oder Marina Montoya, Schwester eines ehemaligen Staatsministers im Präsidentenpalast. Was zunächst wie zehn isolierte Kidnappings unter vielen anderen aussieht, entpuppt sich bald als ein raffiniert geplanter Großangriff des Medellín-Kartells auf die öffentliche Meinung des südamerikanischen Landes, denn ein zentrales Thema beherrscht in den Wochen vor und nach der Übergabe der Amtsgeschäfte durch Präsident Virgilio Barco an seinen Nachfolger César Gaviria die innenpolitische Debatte in Kolumbien: die Auslieferung von Angehörigen der Drogenmafia an die Justiz der Vereinigten Staaten.

Das Beispiel eines Carlos Lehder oder Manuel Noriega vor Augen, tritt der Drogenboß Pablo Escobar die Flucht nach vorn an. Als ein von allen gejagter outlaw fürchtet er um sein Leben. Der Boß wünscht sich nichts sehnlicher als die Einlieferung in ein kolumbianisches ”Gefängnis”, in dem er, ohne die Kontrolle über sein Imperium aus der Hand zu geben, schalten und walten kann wie es ihm beliebt. Er ordnet die Entführungen der bekannten Journalistinnen an und versucht zugleich, einen Meinungsumschwung in der Frage der Auslieferung an die USA im wahrsten Sinne des Wortes herbeizukommen.

 

Das ist das Thema des neuen ”Romans” von Gabriel García Márquez. Drei Jahre Arbeit hat er in den ”Bericht einer Entführung” investiert. In Gesprächen mit den Opfern und an deren Befreiung beteiligten Personen hat er unzählige Zeugnisse des Dramas zusammengetragen. Maruja Pachón und ihr Ehemann Alberto Villamizar waren es, die im Oktober 1993 an den Autor herantraten und ihn von der Notwendigkeit des Buches überzeugten. Sechs Monate befand sich die Journalistin in der Gewalt des Medellín-Kartells, und in dieser Zeit spielte ihr Mann die Rolle eines Vermittlers zwischen Präsident Gaviria und dem Drogenboß Escobar, bis ihm schließlich die Freilassung seiner Frau und seiner Schwester Beatriz gelingt.

 

Die Ehepartner sind die Protagonisten des ”Berichtes”, und ihre beiden Erzählperspektiven beleuchten die Situation der Entführten und Entführer, die trostlose Lage der Angehörigen, die Rolle der Presse, die offizielle und inoffizielle Verhandlungstaktik der Regierung sowie die Haltung des Parlamentes in diesem Geiseldrama. Und nicht zuletzt gelingt García Márquez ein fast schon menschliches Porträt von Pablo Escobar, der um das Wohl seiner, dem staatlichen Gegenterror ausgesetzten Familie und Mitstreiter bangen muss. Ähnlich wie in ”der General in seinem Labyrinth”, wo der Nobelpreisträger den Nationalhelden Simón Bolívar vom Podest hebt und in all seiner Kreatürlichkeit darstellt, so betreibt er in ”Bericht einer Entführung” die Entdämonisierung des Staatsfeindes Nummer eins.

 

Wie Hemingway versteht es García Márquez, die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur aufzuheben. Bereits in seinen frühen journalistischen Werken, die er in den 50er Jahren als Mitarbeiter der Tageszeitung ”El Espectador” aus Bogotá verfasste, gelingt dem späteren Nobelpreisträger der eindrucksvolle Spagat zwischen engagierter Reportage und belletristischem Oeuvre. Zudem hat García Márquez immer wieder betont, dass die Reportage für ihn die ”höchste Form des Journalismus” und zugleich ”eine Form der Literatur” ist. Auch Titel wie ”Diario de un naufrago” oder ”Crónica de una muerte anunciada” lassen auf eine gattungstheoretische Ungezwungenheit sowie auf eine gewisse Vorliebe für das journalistische Genre par excellence schließen.

 

Für García Márquez war die Arbeit an seinem ”Bericht” ein trauriges und nervenaufreibendes Unterfangen. Insbesondere die Gespräche mit den Angehörigen von Marina Montoya und Diana Turbay gehören, nach seinen Worten, zu den erschütterndsten Erfahrungen, die er in seiner Laufbahn als Schriftsteller gemacht hat. Marina Montoya wird von ihren Entführern kaltblütig ermordet und von den Behörden als nicht identifizierbare Leiche in einem anonymen Massengrab verscharrt. Diana Turbay wird bei einer, von der Regierung offiziell nicht autorisierten Befreiungsaktion des Militärs in Medellín von Kugeln durchsiebt. Ihre Mutter, Nydia Quintero, die als ehemalige First Lady über die besten Verbindungen verfügt und selbst vor direkten Gesprächen mit den Drogenbossen nicht zurückschreckt, macht vor laufender Kamera den Präsidenten der Republik für den Tod ihrer Tochter verantwortlich, während der Vater, hin- und hergerissen zwischen Staatsräson und persönlicher Anteilnahme, in stoisches Schweigen verfällt. Nicht ein einziges Mal versucht er Einfluss zu nehmen auf die offizielle politische Linie seines Nachfolgers im Präsidentenpalast.

 

García Márquez liefert in seiner ”Reportage” ein realistisches Porträt Kolumbiens. Er erzählt nicht nur die Geschichte ”dieses bestialischen Dramas, das leider nur eine Episode des biblischen Holocausts darstellt, in dem sich Kolumbien seit mehr als zwanzig Jahren verschleißt”. Das Buch ist hochaktuell, denn in dem andauernden Drama Kolumbiens ändern sich höchstens die Namen der Protagonisten. Indizien dieses Dramas waren die diplomatischen Geplänkel zwischen Kolumbien und den USA, die in der Mitteilung des State Departement gipfelten, Präsident Samper werde wegen der Finanzierung seines Wahlkampfes durch die Drogenmafia kein Visum mehr für die Einreise in die USA erhalten. Und Ex-Präsident Gaviria, der sich im Entführungsdrama von 1990/91 standhaft weigerte, in offizielle Verhandlungen mit der Drogenmafia einzutreten, sah sich, nunmehr als Generalsekretär der OAS, gezwungen, Fidel Castro einzuschalten, um die Freilassung seines, von der kolumbianischen Guerilla entführten Bruders zu erreichen.

 

Gabriel García Márquez, Noticia de un secuestro, Barcelona/Buenos Aires 1996.