Konstitutionelle Gerechtigkeit: Interview mit Oswaldo Bayer

Interview mit Osvaldo Bayer, argentinischer Historiker und politischer Publizist. Während der Militärdiktatur 1976-83 mußte er ins Exil gehen und wurde einer der Wortführer des argentinischen Exils in Deutschland. Seit November 1994 besitzt er den ersten Lehrstuhl für Menschenrechte an der Universität von Buenos Aires. Das Interview führten Robert Mehr und Stefanie Keienburg.

 

MATICES: Wie fühlen Sie sich als Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte, wenn man – um es mit Ihren eigenen Worten auszudrücken – wie Sie, in einem konstitutionellen Staat ohne Gerechtigkeit lebt?

 

BAYER: Ich habe diese Professur angenommen, weil die Zukunft eines demokratischen Argentiniens und die Erziehung der kommenden Generationen in ihren Rechten einen Lehrstuhl für Menschenrechte unverzichtbar macht. Die Thematik der Menschenrechte umfaßt ein weites Feld wie die Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Sozialwissenschaften, Rechtswissenschaften und ist letztendlich ein Ausdruck dessen, was im heutigen Argentinien geschieht. Z.B. ist es das erste Mal, daß das Thema der Homosexualität in einer so öffentlichen Form an einem argentinischen Lehrstuhl (dem Lehrstuhl von H. Bayer A.d.R.) behandelt wird.

 

MATICES: Einer Ihrer Schwerpunkte liegt ja in der Aufarbeitung der kriminellen Geschehen, die sich während der letzten Militärdiktatur in Argentinien ereignet haben. Zu Ihren Vorlesungen, zu denen durchschnittlich um die 700 Studenten erscheinen, laden Sie häufig auch Opfer der letzten Militärdiktatur ein.

 

BAYER: Ja, das stimmt. Jeden Freitag Abend findet ein sog. "Forum" in der Aula Magna statt, zu dem alle, die daran teilnehmen wollen, Zutritt haben. In der Regel beginnen diese Zusammentreffen damit, daß ich die eingeladenen Gäste zu den verschiedensten Themen befrage. Danach haben die Studenten die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und meistens entwickeln sich daraus sehr bewegte Diskussionen, die kein Ende nehmen wollen. Was ich damit sagen möchte ist, daß diese Diskussionen auf großes Interesse und Engagement stoßen, nicht nur bei den Studenten, sondern auch bei anderen Gruppen – es kommen z.B. auch viele Leute aus der Nachbarschaft – und daß viele Menschen über die Möglichkeit, bei uns einmal ihre Meinung öffentlich ausdrücken zu können, sehr froh sind.

 

MATICES: Haben Sie den Eindruck, daß die Arbeit ihres Lehrstuhls auf gesellschaftliche Akzeptanz stößt oder gibt es Vorurteile?

 

BAYER: Den großen Erfolg, den die Gründung hatte, kann man an der Entwicklung an anderen argentinischen Universitäten ablesen. Die Universität von La Plata folgte bald darauf dem Beispiel von Buenos Aires und richtete einen eigenen Lehrstuhl für Menschenrecht. Das Gleiche betrifft die Universitäten von Rio Negro in Patagonien, Viedma und Rosario und ich weiß von weiteren Einrichtungen in diesem Jahr. Für ein Land wie Argentinien, das eine derartige Aufarbeitung nie betrieben hat, können dies nur Schritte in die richtige Richtung sein.

 

MATICES: Also besteht großes Interesse?

 

BAYER: Ja, das Interesse ist besonders groß, da seit jeher versucht wurde, die schändliche Vergangenheit Argentiniens (unter der Militärdiktatur) mit Hilfe von absolut widrigen Gesetzen wie das Befehlsnotstandgesetz und das SchlußpunktGesetz (1), die Alfonsín erlassen hat, zu verdecken. Nicht zu vergessen die Amnestie von Videla und anderen verurteilten Machthabern durch Menem. Dadurch wurden die Wunden nicht geheilt, im Gegenteil, sie rissen noch weiter auf. Und nachdem es bereits eine Generation gegeben hat, die nicht gewagt hat, den Mund aufzumachen, fordert die heutige Jugend Aufklärung über das, was passiert ist. Das Gleiche ist in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg geschehen.

Bei diesem Wunsch der heutigen Generation nach Aufklärung müssen wir nun unsere Arbeit ansetzen. Zu unserem Forum haben wir sowohl Familienangehörige von "verschwundenen" Kindern eingeladen, als auch Vertreter des Verteidigungsministeriums sowie Vertreter der ehemaligen Unterdrücker, die jedoch durch Abwesenheit glänzen. Durch ihr Nichterscheinen demonstrieren sie zum einen ihre Feigheit oder besser gesagt ihren Mangel an Zivilcourage; zum anderen bestärken sie dadurch den Sinn unserer Arbeit. Allerdings sind wir nach den Offenbarungen des Kapitän Scilingo und der – natürlich etwas milderen – Selbstkritik der Oberbefehlshaber von Armee, Marine und Luftwaffe, Martín Balzá, Enrique Molina und Juan Pawlik, die die illegale und brutale Repression als große Sünde bezeichnet haben, mittlerweile viel weniger auf eigene Aussagen der Repressoren angewiesen.

 

MATICES: Seit 18 Jahren protestieren die Mütter und Großmütter von "Verschwundenen" auf der Plaza de Mayo, dem Platz vor dem argentinischen Regierungssitz. Sie haben einmal in einem Artikel geschrieben, daß diese Frauen ein Beispiel an ethischem Verhalten liefern.

 

BAYER: Ja, die Mütter der Plaza de Mayo waren – und sind bis heute – die einzige Gruppierung, die während und nach der Diktatur einen unermüdlichen Kampf gegen die Ungerechtigkeit geführt hat. Auch vom Standpunkt der christlichen Ethik aus gesehen, kann man sagen, daß sie ein Vorbild an Würde und an menschlichem Verhalten sind. Anstatt mit Gewalt kämpfen sie mit friedlichen Mitteln, mit ihren Körpern, angetrieben von ihrem beharrlichen Streben nach Gerechtigkeit. Keine von ihnen konnte jemals für eine politische Partei oder ein öffentliches Amt gewonnen werden. Wer sie gesehen hat, oder sieht, weiß, daß es ganz einfache Frauen sind, Hausfrauen, ohne jeglichen politischen Hintergrund oder politische Erziehung. Hebe de Bonafini (die Vorsitzende der Madres de Plaza de Mayo A.d.R.) zum Beispiel ist meiner Meinung nach eine der größten Rednerinnen der argentinischen Geschichte, und ich habe eine ganze Reihe politischer Frauen kennengelernt, unter anderem Eva Perón.

 

MATICES: In Argentinien dürfen Sie das aber – angesichts der Popularität Evitas – nicht laut sagen.

 

BAYER: Es gibt nur wenige, die sich trauen, etwas gegen die Mütter der Plaza de Mayo zu sagen und nicht etwa, weil sie einen berechtigten Grund dafür hätten, sondern weil sie ein schlechtes Gewissen aufgrund ihrer eigenen Untätigkeit und Lethargie haben.

Als Exilant der argentinischen Diktatur muß ich sagen, daß für mich, auch nach dem Sturz der Militärs, zunächst keinerlei Hoffnung bestand, nach Argentinien zurückzukehren. Erst als ich eines Tages in der Zeitung las, daß es eine kleine Gruppe von Frauen gibt, die Gerechtigkeit fordern, war für mich klar, daß ich meine Koffer packen konnte. Für uns Exilanten waren diese Mütter ein Licht am Ende eines langen Tunnels und dafür werde ich ihnen mein Leben lang dankbar sein.

 

MATICES: Im heutigen Argentinien ist der Umgang mit der eigenen Vergangenheit sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite steht die Suche nach Wahrheit, die in erster Linie von den Müttern der Plaza de Mayo, aber auch von der jungen Studentengeneration verkörpert wird, und auf der anderen Seite eine Regierung, die bis zum heutigen Tag mit Hilfe der bereits von Ihnen erwähnten Gesetze eine Aufklärung der Verbrechen und eine Verurteilung der Schuldigen verhindert. Wie erklären Sie sich, daß einer der schlimmsten Repressoren unter der Militärdiktatur im argentinischen Nordosten, General Bussi, vor kurzem die Wahlen in Tucumán gewinnen konnte?

 

BAYER: Der Fall Bussi ist ein Beispiel für den Mangel an demokratischer Kultur innerhalb der argentinischen Gesellschaft. Unter den Militärs wurde General Bussi nach Tucumán gesandt, um die dort ansässige Guerilla zu zerschlagen. Um die Bevölkerung auf seine Seite zu bringen, ging er – ausgestattet mit den nötigen Finanzmitteln – sehr demagogisch vor: er ließ Straßen, Krankenhäuser und große öffentliche Gebäude bauen und erhöhte die Löhne und Gehälter. Nach dem Ende der Diktatur wurde er für die vielen Morde und Verbrechen, deren er sich während seiner Amtsperiode schuldig gemacht hatte, verurteilt, aber unter Menem wieder begnadigt. Da der letzte Gouverneur von Tucumán, der Schlagersänger Palito Ortega, ein peronistischer Vertrauter Menems, erbärmlich gescheitert ist, standen die Tucumaner vor einer schwierigen Entscheidung. In Tucumán existiert ebensowenig wie in anderen Teilen des Landes eine wirkliche Linke, wenn man einmal die moderate Linke der Frente Grande außer Acht läßt, die außerdem in Tucumán nicht organisiert ist. Neben den Peronisten und einigen kleinen Parteien, wie die der Radikalen, kam als einzige Alternative, um den Peronisten eine Absage zu erteilen, nur das Team Bussis in Frage. Sicherlich haben sich die Tucumaner darüber hinaus an Bussis frühere "Wohltaten" für das Volk erinnert und erhoffen sich daher nun Wohlstand von ihm. Man muß den Dingen jedoch klar ins Auge sehen: Bussi wird ebenso scheitern wie sein Vorgänger. Erstens wird die Regierung Menem ihm aufgrund seiner Parteizugehörigkeit jegliche Unterstützung verweigern und zweitens wäre sie – selbst wenn sie wollte – gar nicht dazu in der Lage, da der Staat jetzt schon über keine Finanzmittel mehr verfügt. Um den Haushalt auszugleichen, hat Bussi bereits Entlassungen im öffentlichen Dienst vornehmen müssen. Der Fall von Tucumán läßt sich jedoch nicht für ganz Argentinien verallgemeinern. Immerhin hat die Bevölkerung auf nationaler Ebene für Menem gestimmt, der zumindest Geldwertstabilität garantiert. Die kleinen Leute wissen das nach den langen Jahren der Inflation zu schätzen, unter der sie am meisten leiden mußten. Sie verdienen zwar jetzt weniger, aber sie wissen wenigstens, wie weit sie kommen...

 

MATICES: Angesichts der Schuldbekenntnisse von Personen wie Scilingo und Balza glauben Sie, daß dies nur politisches Taktieren ist, oder gibt es einen Prozeß des Umdenkens innerhalb der Streitkräfte?

 

BAYER: Hierfür ist es notwendig, ein bißchen die Geschichte der argentinischen Militärs aufzurollen. Durch das feige Verhalten der meisten Offiziere höheren Ranges im Malvinenkrieg und die repressiven Methoden der letzten Militärregierung hatten sich die Streitkräfte diskreditiert. Die Herausforderung Englands, eines Mitglieds der NATO und Verbündetem der USA, führte auch auf internationaler Ebene zu einem Gesichtsverlußtes. Aufgrund dieses Geschehens erkannten die USA (wir befanden uns noch mitten im Ost-West-Konflikt), daß es viel nützlicher, ist eine Demokratie zu stabilisieren. Heutzutage sind die USA daran interessiert, daß die Streitkräfte der lateinamerikanischen Staaten eine glaubwürdige moralische Basis haben.

In Deutschland hatten wir ja nach dem Zweiten Weltkrieg das gleiche Phänomen einer diskreditierten Wehrmacht. Daher entschloß man sich damals eine völlig neue Armee mit einem vollkommen anderem Namen und ohne Vergangenheit ins Leben zu rufen. Volker Rühe sagte noch vor kurzem: "Die Bundeswehr ist nicht verantwortlich für die Vergehen der Wehrmacht." Nun, in Argentinien versucht man nun das Gleiche. Man schafft die Wehrpflicht ab und gründet eine Freiwilligenarmee und begleitet diesen ganzen Vorgang mit einer Selbstkritik der drei Waffengattungen. Es ist unbestritten, daß die Militärs einen Wandel vorantreiben. Das heißt: den Aufbau eines neuen Heeres mit glaubwürdigeren moralischen Grundsätzen. Ein schweres Unterfangen ...

Im Januar veröffentlichte die TAZ einen Artikel über die Judenfeindlichkeit in Argentinien seitens des Militärs. Es scheint erwiesen, daß Teile des Militärs nicht nur unter der Diktatur, sondern auch bei den jüngsten Attentaten wie dem Bombenanschlag gegen die israelische Botschaft in Buenos Aires (1992) und die Asociación Mutual Argentina (AMIA, jüdisch-argentinisches Sozialwerk, 1994), bei denen insgesamt 115 Menschen ums Leben kamen ihrer antisemitischen Haltung Ausdruck verschafft haben.

Allgemein kann man sagen, daß die argentinische Mittelklasse immer rassistische Züge aufgewiesen hat. Das hat seinen Ursprung in der Geschichte des Katholizismus und kann aber auf keinen Fall mit dem Rassismus der Nazis verglichen werden. Während diese Form der Diskriminierung in der Gesellschaft eher versteckt ist, kommt er bei den Streitkräften und der Polizei offen zum Vorschein. In der Armee gibt es heutzutage eine extreme Rechte, die auch carapintadas genannt wird, die Ostern 1987 einen Putsch gegen die Demokratie unternommen hat. In diesen Kreisen ist eine direkte Verbindung zu arabischen Fundamentalisten vorhanden.

 

MATICES: Sehen Sie nicht die Gefahr, daß angesichts der schweren sozialen Krise die Argentinien durchmacht, Gastarbeiter, wie Bolivianer und Brasilianer, die bereit sind für einen geringen Lohn zu arbeiten, Ausschreitungen ausgesetzt sein könnten?

 

BAYER: Hierbei ist es notwendig zu differenzieren. Eine Sache ist der Antisemitismus gewisser rechtsgerichteter Kreise in Argentinien, eine andere Sache ist eine Fremdenfeindlichkeit wie sie z. B. in Deutschland gegen Türken, in Frankreich gegen Algerier, in Italien gegen Albaner und in Spanien gegen Marokkaner gerichtet ist. In Argentinien ist vor allem in den letzten Jahren ein Anstieg bolivianischer und brasilianischer Gastarbeiter zu verzeichnen. Konsequenz ist, daß angesichts der hohen argentinischen Arbeitslosigkeit, die Schuld nicht im System, sondern bei den armen ausländischen Arbeitern gesucht wird, die bereit sind, für einen Hungerlohn zu arbeiten. Diese Fremdenfeindlichkeit wird auch durch die Gewerkschaften geschürt. In Buenos Aires gibt es Plakate auf denen steht: "Uns wird die Arbeit geraubt" und daneben stellen sie das Bild eines schwarzen Brasilianers. Die zu verzeichnende Fremdenfeindlichkeit ist somit nicht immanent, sondern geschürt durch gewisse Sektoren und die herrschende Arbeitslosigkeit, die das neoliberale Modell hervorbringt.

Wir danken Ihnen für das Gespräch, Herr Bayer.

Vom Spanischen ins Deutsche übersetzt.

 

(1) Das Befehlnotstandgesetz von 1987 gab den Richtern die Anweisung, das Prinzip des pflichtgemäßen Gehorsams für alle Angehörigen der Streitkräfte unterhalb dem Rang eines Oberst anzuwenden und alle anstehenden Verfahren gegen sie zu schließen. Das Schlußpunktgesetz von 1986 setzte für die Gerichte Fristen für die Beendigung aller Nachforschungen bezüglich Menschenrechtsverletzungen.