Die Lage bleibt ernst

Menschenrechte in Lateinamerika nach dem demokratischen und wirtschaftlichen Aufbruch

von Stephan Küffner Andrade

 

Seit 1979 haben praktisch alle ehedem von Militärregimen regierten Staaten Lateinamerikas zumindest ein formal demokratisches politisches System installiert. Doch der Einfluss von Militär und Polizei - aber auch der Guerrilla - beweist oft die bleibende Schwäche des Rechtsstaates in der Region.

 

"Jeder der Misshandelten sah anders aus, keiner hatte dieselben Misshandlungen. Und meine Mutter erkannte meinen kleinen Bruder, ihren Sohn, zwischen all den anderen. Einige waren mehr tot als lebendig, andere konnten sich kaum auf den Beinen halten, und man sah ihnen an, dass sie sehr, sehr große Schmerzen hatten. Mein Bruder war schwer misshandelt worden und konnte sich kaum aufrecht halten. Allen Gefolterten gemeinsam war, dass sie keine Fingernägel mehr hatten und dass man ihnen Teile der Fußsohlen abgeschnitten hatte. Sie waren barfuß." 

 

So beschreibt Rigoberta Menchú ihre letzte Begegnung mit ihrem kleinen Bruder, der von mestizischen Militärs als abschreckendes Beispiel einer zu unterdrückenden Maya-Quiché Gemeinde vorgeführt wurde. "Dank der Regierung Reagan haben wir jetzt überall in Lateinamerika - mit Ausnahme von Kuba - gewählte Regierungen." Im Gegensatz zu dieser vom konservativen US-Publizisten William F.Buckley gerne verbreiteten weißen Legende hat sich die bipolar ausgerichtete Außenpolitik Reagans nie für die lateinamerikanische Demokratie, sondern nur für Lateinamerikas Antikommunismus interessiert. Abgewirtschaftete Militärregimes gaben nicht etwa wegen US-Druckes auf, sondern weil sich - wie in Argentinien oder Ekuador - der Rückhalt in der Gesellschaft durch die Notenpresse und Korruption nicht mehr aufrechterhalten ließ.

 

Ohne Recht fließt weniger Geld

 

So wie die Reform der lateinamerikanischen Volkswirtschaften nach der Phase der makroökonomischen Stabilisierung (die noch nicht in allen Staaten stattgefunden hat) notwendig ist, geht es im derzeitigen Demokratiezyklus in Lateinamerika (wenn er denn endgültig sein soll) darum, die Verfassungsrealität an die Verfassungsziele anzupassen. Vor allem geht es hier um die Schaffung eines echten Rechtsstaates, der von Land zu Land unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Schließlich hängt die Stabilität der ökonomischen Reformen auch von der Einführung einer gut funktionierenden Gerichtsbarkeit ab. Heute geht es wegen des aktuellen "Demokratiezyklus" in Lateinamerika um mehr als die von Pink Floyd als "assorted Latin American meat-packing glitterati" beschriebenen Herrscher in Uniform: Es geht nicht nur um die Annäherung der rechtsstaatlichen an die Verfassungsrealität, sondern um die Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit - vor allem die Frage der impunidad, der Straffreiheit für diejenigen, die vor dem Gesetz gleicher sind als andere. Ein Kernproblem bleibt die Sonderrolle der "fuerzas del orden": "Amnesty International bemüht sich vor allem darum, überall der zivilen Gerichtsbarkeit die Straftaten, die durch Angehörige von Streitkräften und Polizei begangen werden, zu unterstellen", erklärt im Gespräch mit Matices José Luis Herrero, Sprecher der Londoner Zentrale von Amnesty International für Amerika und Europa.

Zu dem, was im einzelnen durchgeführt werden sollte, nimmt ai in einzelnen Berichten Stellung. Daneben nimmt die Organisation auch eine gewisse Beratungsfunktion wahr, und in einigen Ländern hat dies auch zu Gesetzesnovellen geführt. Der Grund für die anhaltenden Verletzungen der Menschenrechte im gesamten Subkontinent liegen natürlich in der weit verbreiteten Armut. Ohne Geld, kein Recht - aber ohne Recht kein Geld. "Die Lösung des Armutsproblems - und damit letztlich des Menschenrechtsproblems - kann letztlich höchstens sehr langfristig erfolgen", so Herrero.

 

Menschenrechtsverletzungen im Privatsektor

 

Die politische Entwicklung der letzten Jahre hat allerdings den Fokus der Arbeit von Amnesty International tendenziell verändert: Neben der Beobachtung von unrechtmäßiger Gewaltanwendung durch staatliche Einrichtungen untersucht ebenso Gewaltakte, die von nicht staatlichen bewaffneten Gruppen verübt werden. "Unsere Arbeit musste sich in den letzten Jahren dahingehend ändern, dass wir zusehends auch die Gewalt nicht staatlicher Gruppen beklagen müssen" Hierfür sind die Aktivitäten von paramilitärischen "Selbstverteidigungs-Gruppen" und Guerrillas in Kolumbien die deutlichsten Beispiele. 1994 wurden dort mehr als 1.000 Menschen von Militärs oder ihnen nahestehende paramilitärische Gruppen außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens hingerichtet, während zahlreiche gezielte Morde, summarische Hinrichtungen, Entführungen und Geiselnahmen von bewaffneten Oppositionellen begangen wurden.

Die Statistiken machen nach dem Amnesty-Sprecher einen eher konservativen Eindruck. In einigen Gebieten, z.B. in den Metropolen, können die Korrespondenten der Londoner Organisation einen relativ guten Überblick über Menschenrechtsverletzungen erhalten. Bei entlegenen Regionen ist dies nicht der Fall. Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten zur Manipulation gerade im statistischen Bereich sind "die von uns genannten Zahlen sind lediglich die Spitze des Eisbergs," urteilt Herrero. Zudem ist es Amnesty, was nicht überraschen kann, nicht in jedem Land vergönnt, frei zu recherchieren. Die Regierungen nehmen dabei auf verschiedene Art und Weise Einfluss, eher schmeichelhaftes Hofieren (wie Zedillos Mexiko) oder Langsamkeit bei der Visaerteilung, auch wenn Amnesty offiziell zur Teilnahme an einem Menschenrechtskongress eingeladen wurde (Fidels Kuba).

 

Im Brennlicht der Weltöffentlichkeit

 

Die Effekte der transnationalen Verflechtungen - wozu nicht zuletzt der kritische Blick nervöser Investoren im Ausland zu zählen ist- verhindern inzwischen in vielen Ländern Menschenrechtsverletzungen, die im manichäistischen Denken des Kalten Krieges gang und gäbe waren. Wo nicht mehr wie früher allein das Bekenntnis zum Antikommunismus zur Militärhilfe aus den USA führte, können die Streitkräfte nicht mehr ungestraft auf Demonstranten schießen.Das beweisen die ekuadorianischen Indigenen Proteste von 1991 ebenso wie die jüngst erfolgte Entschädigung der Hinterbliebenen von Opfern honduranischer Todesschwadronen und das Scheitern des Putschversuches in Paraguay. Die politischen und ökonomischen Kosten sind inzwischen zu hoch, als dass eine Regierung die Streit- und Polizeikräfte ungehindert Morden lassen könnte.

 

Die viel beschworene "Globalisierung" hat in einzelnen Fällen auch zur Zivilisierung der Truppen geführt: "Die Teilnahme von argentinischen und honduranischen Soldaten an friedenserhaltenden Maßnahmen der Vereinten Nationen hat sich äußerst positiv auf die Demokratisierung der Militärs in diesen Ländern ausgewirkt", unterstreicht Herrero.

 

Trotz der im Wahlkampf angekündigten Justizreform und der Ernennung eines führenden Oppositionspolitikers zum obersten Staatsanwalt ist es dem mexikanischen Präsidenten Ernesto Zedillo nicht gelungen, in Mexiko den definitiven Wandel zum Rechtsstaat einzuleiten. "Die Lage in Mexiko ist beunruhigend", meint auch Herrero, um dem hinzuzufügen: "Sehr problematisch bleibt die Situation ebenfalls in Guatemala und natürlich Kuba, vor allem aber in Haiti." Hier hat aber laut dem Sprecher von Amnesty die ausländische Intervention zu einer merklichen Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte geführt. So stellt Herrero grundsätzlich fest: "Die Situation ist ernst. Im Vergleich mit der Vergangenheit können wir durchaus einige Verbesserungen feststellen. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass der Schutz der Menschenrechte weit davon entfernt ist, ein wünschenswertes Niveau zu erreichen."