111 Orte in Buenos Aires

Making Of

von Benjamin Haas und Leonie Friedrich

Der Anfang

 

Eigentlich wollten wir uns nur das Buch „111 Orte in Buenos Aires, die man gesehen haben muss“ besorgen, nachdem wir zu unserem Umzug die Bonner Variante geschenkt bekommen hatten. Ausgaben zu San Francisco, Neu-Delhi und Istanbul gab es zwar, aber Buenos Aires fehlte in der 111-Orte Reihe des Emons-Verlages. Vielleicht sollten WIR den Band schreiben? Wir haben beide im Rahmen eines Freiwilligendienstes zu unterschiedlichen Zeiten ein Jahr am Río de la Plata gelebt und waren seither aus unterschiedlichen Anlässen immer wieder dort. Und uns gefiel das Konzept der Reihe, Orte zu präsentieren, die so in keinem Reiseführer zu finden sind. Warum es also nicht zumindest mal versuchen? Wir bekundeten unser Interesse und nach einigem Mailwechsel mit dem Verlag, zwei Probetexten, Probefotos und einer ersten Ideenliste, hatten wir ein halbes Jahr später den Vertrag und die Herausforderung, 111 kuriose, interessante und außergewöhnliche Orte in der 15-Millionen-Stadt zu finden, in der Tasche.

 

Die Recherche

 

Nachdem wir alle Ideen zusammengetragen hatten, die wir auf unseren Reisen entdeckt hatten, kamen wir auf 30 Orte und Geschichten. Im Lauf eines Jahres durchstöberten wir deutsche und argentinische Bücher, folgten Fotografinnen und Fotografen aus Buenos Aires auf Instagram, durchforsteten Twitter-Hashtags und schauten uns alle Dokumentarfilme zu Buenos Aires auf YouTube an. Bevor wir im September 2015 nach Buenos Aires reisten, standen etwa 80 Orte fest. Unsere Freundinnen und Freunde vor Ort wurden zu einer weiteren unersetzlichen Ressource. Darunter zum Beispiel ein eher konservativer deutscher Rentner, der seit den 1970er Jahren in Buenos Aires lebt und Zeitungsartikel zu allen möglichen Aspekten der Stadt und ihrer Geschichte sammelt. Daneben ein linker Sozialarbeiter, der uns an Orte des sozialen Widerstands

führte. Die Gespräche mit Freundinnen und Freunden, ihren Familien sowie mit zufälligen Bekanntschaften in Bars und auf Privatpartys füllten unsere Liste mit vielen neuen Ideen.

 

Die Auswahl

 

Bei der Auswahl und der Bewertung der Orte ließ uns der Verlag freie Hand. Daher kann man aus dem Buch – so denken wir – eine gewisse politische Grundhaltung herauslesen. Dennoch war es uns wichtig, ein ausgewogenes Buch zu schreiben. Es enthält Orte für jedes Alter, Orte an denen es sich lohnt zu verweilen, schöne ebenso wie düstere Orte, kuriose und vor allem auch historische und politische Orte, die bei keiner „normalen“ Stadtführung eine Rolle spielen. Buenos Aires war und ist eine sehr politisierte Stadt. Spuren der politischen Auseinandersetzungen haben sich ins Stadtbild eingeschrieben, wenn auch nicht immer sichtbar oder präsent. Es war uns besonders wichtig, diese Spuren zu porträtieren.

 

Dazu gehören zum Beispiel die verwaisten Überreste der Vasena-Fabrik auf einer kleinen plaza direkt neben einer Autobahn. Die Arbeiter der Fabrik traten 1919 in einen Streik, um bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Innerhalb einer Woche kam es zu einer Gewaltspirale, die als Semana Trágica in die Geschichte einging. Über mehrere Tage hinweg schossen Polizei und ultrarechte Gruppierungen gemeinsam auf die Streikenden. Wütend brannten die Arbeiter die Vasena-Fabrik nieder. Wer sich in Argentinien nicht explizit mit der Geschichte der Arbeiterbewegung beschäftigt hat, hat von diesen Mauerresten noch nie gehört, geschweige denn sie auf dieser plaza wahrgenommen.

 

Aber auch Gedenkorte für tragische Ereignisse, die Bürgerinnen und Bürger selbst erschufen, da sie von der Politik ignoriert wurden, wollten wir in unserem Buch sichtbar machen. Ein Beispiel ist ein Wandbild in Gedenken an zwei Brüder im Alter von sieben und zehn Jahren, die im April 2015 starben, als der Sweatshop, in dem sie schufteten, in Flammen aufging. In sklavenähnlichen Zuständen produzieren rund 30.000 Menschen in und um Buenos Aires Kleidung für den nationalen und internationalen Markt. Sie schlafen im selben Raum, in dem sie bis zu 14 Stunden am Tag nähen müssen. Die Belüftung ist meist schlecht, tödliche Unfälle sind keine Seltenheit in den sogenannten Talleres Clandestinos. Die beiden Street-Art-Künstler, die das Wandbild für die beiden Brüder erschufen, hüllten dafür zwei Jungen in die Stofffetzen, die sie in den Talleres gesammelt haben.

 

Ausgewogenheit bedeutet aber auch, dass wir Orte vorstellen, an denen man Spaß haben kann. Beispiele hierfür sind das alternative Kulturzentrum im Parque Avellaneda oder die LGBT Disco Amerika, in der die Energie der pulsierenden Metropole zu spüren ist. Nicht zu vergessen Orte, an denen man es sich kulinarisch gut gehen lassen kann, wie in einem hervorragenden Restaurant, in dem die Kellner entscheiden, was man zu essen bekommt.

 

Oft wurden wir gefragt, welches unser persönlicher Favorit unter den 111 Orten ist. Dafür gibt es natürlich bei der Fülle an unterschiedlichen Orten verschiedene Maßstäbe. An Skurrilität nicht zu übertreffen war für uns beide der Besuch in der Tierra Santa – ein Themenpark, der die Geschichte des Neuen Testaments erzählt. Auf sieben Hektar ist hier ein Stadtbild im Stil des alten Jerusalems nachgestellt – aus Plastik. Das Zentrum bildet der Hügel Golgatha mit dem gekreuzigten Jesus. Es ist eine Art Disneyland für Gläubige und einzigartig in dieser Dimension. Allein in der Osterwoche zählt das „Heilige Land“ über 35.000 Besucher und Besucherinnen. Angestellte in Beduinen-Gewändern spielen an verschiedenen Stellen des Parks die Bibelgeschichten nach. Ein besonderes Highlight ist dabei natürlich die Auferstehung. Regelmäßig kurz vor der vollen Stunde steigt hierzu eine überdimensionale Jesus-Figur, die mit den Augen zwinkern kann, aus einem Hügel empor. Im Hintergrund erklingt ein theatralisches „Halleluja!“. Für viele Katholiken in Buenos Aires ist der Besuch eine beliebte Gelegenheit, die Bibel ihren Kindern näher zu bringen. Für andere – dazu zählen wir – mag es ein etwas bizarres Erlebnis sein. Nonnen und Mönche bekommen übrigens günstigeren Eintritt.

 

Wir waren drei Monate fast täglich im Stadtzentrum und Großraum von Buenos Aires mit unseren Kameras unterwegs. Es war uns wichtig, alle 111 Orte selbst zu besuchen, nicht nur um sie zu fotografieren, sondern auch, um sie selbst zu erleben und sie umfassend beschreiben zu können. 

 

Das Resümee

 

Obwohl wir oft in der Stadt waren und glaubten, sie schon ganz gut zu kennen, wissen wir jetzt zwar deutlich mehr und haben viele Einblicke bekommen. Doch gleichzeitig wurde uns auch bewusst, dass wir mit dem Buch nur einen Bruchteil der Diversität der Stadt zeigen konnten.

 

Welche vielleicht negative Auswirkung hat es für „versteckte“ oder alternative Orte, wenn wir in einem Buch über sie berichten? Diese Frage begleitete uns bei der Recherche und der Reise ständig. Meistens nahmen uns die Menschen, denen die Läden gehörten, die die Museen verwalteten oder die die alternativen Orte aufgebaut hatten, diese Angst. Sie freuten sich über die Aufmerksamkeit und darüber, dass Menschen aus dem Ausland Interesse daran hatten, über das „andere“ Buenos Aires zu berichten. Es war uns wichtig, mit dem Buch einen Kontrast anzubieten zu den vielen Dokumentationen und Berichten zu Buenos Aires, die ein sehr einseitiges Bild zeichnen: Tango, Fußball, Rindfleisch und Pariser Architektur. Diese Klischees gehören zu der Stadt, werden der vielfältigen Metropole allein jedoch nicht gerecht. Wir hoffen, dass uns dieser Kontrast gelungen ist.

 

In den drei Monaten vor Ort durften wir sehr viele spannende Menschen treffen, mit denen wir lange und intensive Interviews geführt haben. Diese anregenden, lustigen, bedrückenden, aufwühlenden, und faszinierenden Gespräche kann man natürlich in einem Buch dieses Formates nur zum Teil abbilden. So manches Mal hätten wir uns gewünscht, auch DokumentarfilmerIn zu sein.

 

Benjamin Haas und Leonie Friedrich sind die Autoren des alternativen Stadtführers „111 Orte in

Buenos Aires, die man gesehen haben muss“ (Emons-Verlag, Köln).