Von Opfern und Tätern

Fernando Aramburu erzählt in Patria von den menschlichen Verwüstungen des ETA-Terrors. Bei der lit.Cologne hat der baskische Autor seinen Roman vorgestellt. Dabei wurde klar, wie aktuell das Thema noch immer ist.

von Jan Göthlich

Von Terror geprägt

 

Im Frühjahr dieses Jahres trat die ETA zum vielleicht letzten Mal öffentlich in Erscheinung. Die Leitung der baskischen Terrororganisation bat um Verzeihung für die vielen unschuldigen Toten, die sie zu verantworten hatte. Zugleich kündigte sie ihre endgültige Auflösung an. Ihrer Entwaffnung hatte die Gruppe bereits 2017 nach jahrelangem Waffenstillstand zugestimmt. So endete Schritt für Schritt der bewaffnete Kampf für ein unabhängiges Baskenland. Nach fast sechs Jahrzehnten Aktivität und über 800 Opfern.

 

Die ETA wurde 1959 gegründet. Im selben Jahr kam Fernando Aramburu in San Sebastián zur Welt. Seine Jugend fiel in eine Hochphase des Terrors. Später studierte er spanische Philologie in Saragossa und folgte 1984 der Liebe nach Hannover. Obwohl er seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, ist das Baskenland immer seine Heimat geblieben. Patria ist auch sein jüngster Roman betitelt, der in Spanien zum Bestseller avancierte und Anfang des Jahres in deutscher Übersetzung erschien. Dass er auch hier bestens aufgenommen wird, zeigte die Lesung Aramburus im Rahmen der lit.Cologne.

 

Unterhaltsamer Abend zu schwerem Thema

 

Das Comedia Theater in der Kölner Südstadt war restlos ausverkauft. Neben dem Autor nahmen die WDR-Moderatorin Claudia Dichter und der Schauspieler Florian Lukas, zuständig für die deutschen Textstellen, Platz. Aramburu erschien in Jeans, gepunktetem Hemd und ohne Baskenmütze. Sein sehr gutes Deutsch erstaunte wahrscheinlich einige Zuschauer, die noch nicht viel über ihn persönlich wussten. Sie und alle anderen nahm er mit seiner lockeren, humorvollen Art schnell für sich ein. „Das kann ich akzentfrei“, entgegnete er auf die Bitte der Moderatorin, den Beginn seines Buchs im spanischen Original zu lesen.

 

Der Roman selbst ist nicht unbedingt prädestiniert für einen lustig-unterhaltsamen Lesungsabend. Er erzählt auf mehr als 700 Seiten die Geschichte zweier Familien in einem baskischen Dorf nahe San Sebastián. Lange Zeit sind sie eng befreundet: Die Hausfrauen Bittori und Miren kennen sich seit Kindertagen, wollten schon gemeinsam ins Kloster gehen und treffen sich nun regelmäßig, um über ihre Ehemänner herzuziehen. Die sind ihrerseits ein unzertrennliches Team beim Kartenspiel Mus und im Rennrad-Club. Zwar ist Txato ein Speditionsunternehmer und kann Bittori und ihren gemeinsamen Kindern Xabier und Nerea ein Leben ohne finanzielle Sorgen ermöglichen. Joxian, einfacher Arbeiter in einer Gießerei, bringt weniger Geld nach Hause. Aber auch seine Tochter Arantxa sowie die beiden Söhne Joxe Mari und Gorka wachsen behütet auf.

 

Politisch engagiert sich keines der Familienmitglieder. Natürlich, auf seine baskische Heimat ist man stolz. Auf das Euskera, die Flagge, die großartige Landschaft zwischen Gebirge und Meer. Bei Wahlen wird selbstverständlich für die separatistische Partei gestimmt. Denn als Spanier definiert sich hier niemand. Aber über die sporadische Teilnahme an Demonstrationen hinaus aktiv zu werden kommt den beiden Familien nicht in den Sinn. Bis Joxe Mari, der älteste Sohn Mirens und Joxians, in die falschen Kreise gerät. Unter dem Einfluss örtlicher Aktivisten radikalisiert er sich. Schnell hat der Kampf gegen die vermeintlichen spanischen Unterdrücker und ihre Verbündeten erste Priorität in seinem Leben. Demonstrieren allein reicht ihm nicht mehr. Es müssen sichtbare Aktionen durchgeführt werden, von Graffitis bis zu Sachbeschädigung, die gegen mutmaßlich unpatriotische Bewohner des Dorfes gerichtet ist. Unter ihnen befindet sich auf einmal auch Txato. Unversehens gilt er als der reiche Unternehmer, der seine Arbeiter unterdrückt. Binnen kürzester Zeit wird er gemeinsam mit Frau und Kindern geächtet. Die ehemals eng befreundeten Mitglieder der beiden Familien grüßen sich nicht einmal mehr.

 

Schließlich eskaliert die Radikalisierung Joxe Maris und er verlässt den Ort, um sich im Untergrund dem bewaffneten Kampf ETA anzuschließen. Inkognito kehrt er nach seiner Ausbildung zurück, gemeinsam mit zwei Mitstreitern und einer Liste unliebsamer Personen. Unter ihnen befindet sich Txato - der Mann, der ihm früher immer Eis spendiert hatte. Aber der Kampf für das Vaterland erfordert nun einmal Opfer. Txato wird geopfert und mit ihm seine ganze Familie. Endgültig ausgestoßen verlässt sie das Dorf. Die Tat stigmatisiert die Hinterbliebenen. Niemand in der Dorfgemeinschaft zeigt Mitleid – denn was würden dann die anderen sagen? Während in der Folge Xabier und Nerea mehr oder weniger erfolgreich versuchen, die Tat zu vergessen, kommt das für die verwitwete Bittori nicht in Frage. Sie treibt die Frage nach der persönlichen Verantwortung Joxe Maris um, der mittlerweile im Gefängnis sitzt. Ganz allmählich nimmt sie zunächst Kontakt zu seiner Schwester auf, schreibt ihm selbst schließlich Briefe. Ob es ihr am Ende gelingt, eine Art Frieden zu finden, bleibt lange unklar.

 

Gegen das Schwarz-Weiß-Denken

 

Fernando Aramburu erzählt diese sich über Jahrzehnte ersteckende Geschichte aus der Sicht aller neun Mitglieder der beiden Familien. Jeder Perspektive wird in etwa derselbe Platz zugestanden. Die Kapitel folgen einander nicht chronologisch, sondern sind eher anhand einer figurenbezogenen Logik komponiert. Nach und nach entsteht so ein facettenreiches Portät jedes Protagonisten. Es ist wahrscheinlich die größte Stärke des Romans: Hier werden keine Täter und Opfer definiert und gegenüber gestellt, sondern Menschen dargestellt. Jeder einzelne ist voller Widersprüche und handelt doch nachvollziehbar.

 

In Köln betonte der Autor, wie viel Wert er auf eine empathische Beziehung zu seinen Figuren gelegt hat. Denn niemand wird als Täter oder Opfer geboren. Er selbst hätte leicht in militante Kreise geraten können. Oft seien es nur gewisse Gruppendynamiken, die eins zum andern führen lassen – oder einfach Pech. Aramburus Rettung seien unter anderem die Bücher gewesen, die zu lesen er die Möglichkeit hatte. Doch natürlich nimmt er Anteil am Schicksal seiner Landsleute. Deshalb sei der ETA-Terror „kein Thema, sondern ein Erlebnis“ für ihn. Die konkreten Figuren sind zwar fiktional, aber „solche Geschichten gab es oft. Ich habe beim Schreiben die Realität gefragt“. Wohl auch deshalb werden im Buch keine Nachnamen genannt; umso exemplarischer können die Figuren stehen.

 

Wie ist die Situation im Baskenland heute? „Am Ende haben die Terroristen nichts erreicht, gar nichts.“, sagte Aramburu. Alle sozialen und politischen Veränderungen – und die gab es – wurden im Laufe der Jahre ausgehandelt und nicht gewaltsam erkämpft. Laut Aramburu sind die Wunden der Gewalt noch spürbar und die Opfer bleiben Opfer. Doch es herrsche endlich Frieden. Es könnten wieder Debatten geführt werden.

 

Ob Patria bei der Aufarbeitung der Vergangenheit geholfen hat, weiß der Autor nicht. Aber er hätte bei Lesungen in seiner Heimat rührende Szenen erlebt. Viele Tränen wären geflossen. Derartiges ist in Deutschland vielleicht nicht zu erwarten. Doch trotz ein paar Längen ist Patria ein sehr gutes, wichtiges Buch. In Zeiten von verhärteten Fronten zwischen „Gutmenschen“ und „Wutbürgern“ kann es nicht schaden, daran erinnert zu werden, dass wir letztlich alle nur Menschen sind. Ein wenig mehr gegenseitige Empathie würde uns guttun.

 

Jan Göthlich ist Redakteur von matices.