Kindgerechtes Arbeiten

Minderjährige in Bolivien kämpfen für ein Recht auf Arbeit

Nach internationalen Menschenrechten ist Kinderarbeit unter 14 Jahren verboten. In Bolivien ist sie aufgrund von Armut aber oft überlebensnotwendig. Seit 2014 gibt es deshalb einen neuen gesetzlichen Ansatz, der als politischer Kompromiss gilt. Für den hat sich die Kindergewerkschaft NATs von Potosí eingesetzt. Jetzt, drei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, sind immer noch viele Fragen offen.

von Hester Samoray

Die Stadt Potosí liegt auf circa 4.000 Metern Höhe. Sie gehört zu den höchstgelegenen Großstädten der Welt. Schlendert man durch ihre engen, von Kolonialbauten gesäumten Gassen, erblickt man am Horizont immer den mächtigen Cerro Rico, den „reichen Berg“. Von seinen Silber- und Zinnvorkommen ist die Stadt noch heute abhängig. 1544 entdeckte ein Indigener die Schatzkammer des Cerro Rico. Die spanischen Eroberer ließen nicht lange auf sich warten und fingen eilig mit der Silberförderung an. Potosí erreichte dadurch eine sagenhafte Blüte: Über mehrere Jahrhunderte war sie eine der reichsten Städte der Welt. Die Minenarbeiter - hauptsächlich Indigene und später auch afrikanische Sklaven - schufteten hier unter unmenschlichen Bedingungen. Schätzungen zufolge verloren bis zu 8 Millionen Menschen im Minenberg Cerro Rico ihr Leben. Heute schürfen die sogenannten mineros noch immer unter haarsträubenden Sicherheits- und Umweltbedingungen. Vor allem Zinn wird abgebaut, denn das Silbervorkommen ist fast komplett aufgebraucht.

 

Neben erwachsenen Minenarbeitern arbeiten auch Hunderte von Kindern in dem Berg. Für Minderjährige ist das in Bolivien zwar per Gesetz verboten, doch das stößt dort auf wenig Aufmerksamkeit. Jedem ist das Risiko, das diese lebensgefährliche Arbeit mit sich bringt, bewusst. Aber die Notwendigkeit der Kinderarbeit im Cerro Rico hat Priorität. Meist arbeiten die Kinder mit ihren Vätern und Onkeln zusammen, weil es immer schon so gemacht wurde. Die Kinder erhoffen sich dadurch ein besseres Leben. Viele gehen zusätzlich zur Schule, wollen studieren und andere Berufe ergreifen. Doch die meisten werden die Mine nie verlassen.

 

Weltweites Verbot der Kinderarbeit

 

In Artikel 32 der UN-Kinderrechtskonvention heißt es, dass Kinder vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt werden müssen. Bis auf die USA haben alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention ratifiziert. Somit gilt der Mindestschutz der Kinderrechte, mit einer einzigen Ausnahme, weltweit.

 

Und trotzdem bleibt die Kinderarbeit vor allem im Globalen Süden eine Herausforderung. Schätzungen zu Folge sind rund 168 Millionen Kinder weltweit wirtschaftlich aktiv, bevor sie das 15. Lebensjahr erreicht haben. Die Hälfte davon arbeitet unter gefährlichsten Bedingungen, was ihre körperliche, geistige, soziale, moralische und kognitive Entwicklung negativ beeinflusst. Der Teufelskreis der Armut wird dadurch fortgesetzt und die Wachstumsaussichten eines Landes sind langfristig in Gefahr.

 

Bolivien schafft einen neuen Ansatz

 

Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas. Unzählige Kinder arbeiten hier von klein auf, um Geld für den eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Familien zu verdienen. Sie streifen durch die Städte als Schuhputzer, tanzen und singen für Busreisende, packen in der Landwirtschaft mit an oder schuften in den Minen. Sie haben Verpflichtungen, die ihrer persönlichen Entwicklung und dem sogenannten Buen Vivir dienen sollen - einem auf indigenen Vorstellungen basierenden Konzept vom guten Leben. Für die meisten Kinder in Bolivien ist Arbeit jedoch die einzige realistische Möglichkeit, der bitteren Armut zu entfliehen.

 

Nach gescheiterten Versuchen, die 26 Prozent arbeitender Kinder aus der Kinderarbeit zu holen, geht die bolivianische Regierung jetzt einen anderen Weg. Vor nun drei Jahren gab es eine Gesetzesänderung, die vor allem auf Drängen nationaler Kinderarbeitsverbände und Organisationen der Zivilgesellschaft verabschiedet wurde. Ihr Ziel war es, Kinderarbeit generell nicht abzuschaffen, sondern einen rechtlichen Rahmen zu kreieren, der Kinder vor ausbeuterischen Arbeitsbedingungen schützen sollte.

 

Die meisten Länder der Welt verfolgen einen abolitionistischen Ansatz, um Kinderarbeit zu bekämpfen. Bolivien ist der erste Staat, der davon abweicht. Es gab viel Kritik von anderen Ländern und internationalen Organisationen. Doch bisherige Versuche, Kinderarbeit gänzlich abzuschaffen, waren im gesamten Globalen Süden eher kontraproduktiv. Somit wurden in Bolivien zum ersten Mal die Bestimmungen der Kinderrechtskonvention in spezifische Lebensrealitäten des Globalen Südens eingebettet.

 

Boliviens Kindervereinigungen

 

Bereits seit den 1980er Jahren gibt es in Bolivien Kindervereinigungen arbeitender Kinder. Im Jahr 2003 gründeten sie offiziell die „Unión de Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores Bolivia“ (UNATsBO, kurz NATs), die Vereinigung der arbeitenden Kinder von Bolivien. 2010 wendeten sie sich mit einem Gesetzänderungsvorschlag an die Regierung. Die Forderungen waren eine soziale und politische Anerkennung für ihre Arbeit und ein Recht auf Bildung, Einbeziehung in die Konzeptualisierungsprozesse neuer Gesetze sowie mehr Unterstützung und mehr Schutz. Um ihre Forderungen durchzusetzen, machten sie mit landesweiten Protesten auf sich aufmerksam. Als der nationale und internationale Druck zu groß wurde, traf Boliviens Präsident Evo Morales, der selbst als Kind gearbeitet hat, mit den Kinderverbänden zusammen.

 

Daraufhin wurde das neue Gesetz unter Teilnahme der Kinder erarbeitet. Gesetz 548 sieht nun in Ausnahmefällen die Senkung des Mindestalters für erlaubte Arbeit von 14 auf 10 Jahren vor. Dazu wurden bessere Schutzmaßnahmen für die arbeitenden Kindern geschaffen. Zahlreiche Tätigkeiten sind für Kinder und Jugendliche untersagt, auch im Bergbau. Die Arbeit der Kinder muss bei einer sogenannten Ombudsstelle registriert und genehmigt werden. Außerdem müssen soziale Leistungen, genügend Freizeit und der Schulbesuch garantiert sein.

 

Das Gesetz gilt als politischer Kompromiss zwischen internationalen Konventionen auf der einen und der bolivianischen Realität auf der anderen Seite. Fakt ist, dass Kinderarbeit durch ein einfaches Verbot nicht aus der Welt geschafft wird, solange die Familien das zusätzliche Einkommen für ihr Überleben benötigen. Daher soll das bolivianische Gesetz nur bis zur Beseitigung der absoluten Armut in Bolivien Anwendung finden.

 

Das NATs-Zentrum in Potosí

 

Die jungen Vertreter der NATs-Gewerkschaft treffen sich immer noch regelmäßig in Potosí. Zum Teil waren sie schon vor drei Jahren bei den Gesetzesverhandlungen dabei. In ihrem Alltag gehen die NATs-Kids zur Schule, arbeiten nebenbei und ihre restliche Zeit verbringen sie im NATs-Büro. Dort kommen sie zusammen, spielen Kicker, machen Hausaufgaben und surfen im Internet. Was Kinder eben machen.

 

Besonders in Potosí ist die Kindergewerkschaft stark vertreten. Das hat sie auch mithilfe von Erwachsenen geschafft. Ausländische Nichtregierungsorganisationen unterstützen sie ebenso wie heimische Sozialarbeiter. Sie bieten ihnen unterschiedliche Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten an. Eine der Sozialarbeiterinnen heißt Luz Rivera. Die 43-Jährige hat einen guten Draht zu den Kindern. Und sie sieht deren Arbeit nicht als Endstation. Zwei junge Frauen zum Beispiel, beide Anfang 20, die auch gearbeitet und sich bei NATs engagiert haben, gründeteten unter dem Dach der Gewerkschaft eine eigene Bäckerei. Heute werden hier Jugendliche zum Konditor und Bäcker ausgebildet. „Das ist eine sichere Alternative gegenüber der gefährlichen Arbeit im Bergbau. Gleichzeitig wird garantiert, dass die Kinder weiterhin zur Schule gehen“, erklärt Rivera.

 

Wenn man sich mit den jungen Erwachsenen von NATs unterhält, fällt schnell auf, wie selbstbewusst und erwachsen sie schon sind. Sie berichten von ihren Erfahrungen, was ihnen wichtig ist und was sie sich für die Zukunft wünschen. Sie arbeiten gerne und sind froh über das neue Gesetz, da sie nun vor Ausbeutung geschützt sind. Rivera betont, dass Kinderarbeit zur bolivianischen Identität dazu gehört. Die Kinder nehmen ihre Gewerkschaftsaufgaben sehr ernst. Sie kontrollieren sich gegenseitig und stehen füreinander ein. Kinder, die von klein auf arbeiten, entwickeln frühzeitig ein eigenes Verantwortungsgefühl. Sie sind unabhängig und lernen das wahre Leben kennen. Aber auch NATs-Kids haben Träume. Für sie ist das frühe Arbeiten ein Sprungbrett in eine bessere Zukunft.

 

Rückschritt ins Mittelalter oder Mittel zur Armutsbekämpfung?

 

Und dennoch: Das Gesetz ist leicht zu missbrauchen und wird dafür kritisiert, dass es die internationalen Normen schwächt. Einige Länder und Institutionen bezeichnen das Gesetz als Legalisierung der Kinderarbeit und Rückschritt ins Mittelalter. Tatsächlich gibt es noch einige Herausforderungen zu meistern. Denn immer noch arbeiten viele Kinder in den Minen vom Cerro Rico, weil sie dort am meisten verdienen. Auch die lokalen Ombudsstellen sind für die Registrierung und Kontrolle der Kinderarbeit weder ausgebildet, noch haben sie die notwendigen Ressourcen. Ohne diese ist das Gesetz jedoch nutzlos.

 

Andererseits ist die strikte Politik des Verbots der Kinderarbeit in Bolivien fehlgeschlagen. Grund dafür ist die wirtschaftliche Not und absolute Armut im Land. Bolivien ist auf Hilfe von außen angewiesen. Doch aufgrund des Streits mit der internationalen Arbeitsorganisation ILO, die für ein striktes Verbot von Kinderarbeit unter 14 Jahren eintritt, erfährt das Land keine internationale Unterstützung bei der Umsetzung des Gesetzes. Im November 2017 veranstaltete die ILO die 4. Globale Konferenz zur nachhaltigen Beseitigung der Kinderarbeit in Buenos Aires. Das globale Ziel ist, Kinderarbeit bis 2025 zu beseitigen. Ein echtes Mitspracherecht haben die, um die es geht, dabei aber nicht.

 

Durch ein Verbot verhindert man keine Kinderarbeit, sondern treibt die Kinder in die Illegalität. Die Kinder, die sich in Potosí und anderswo organisieren, tun dies aus eigenem Antrieb. Ihre Situation zwingt sie dazu, schneller erwachsen zu werden. Luz Rivera hat ein klares Bild dieser Realität: „Sie arbeiten und sie werden nicht damit aufhören, solange die sozialen, ökonomischen und politischen Strukturen Entwicklungsländern wie Bolivien nicht erlauben, sich weiterzuentwickeln. Die europäische Vision des Kindes, das nicht arbeitet und seine Zeit mit Spielen und Lernen verbringen darf - das ist nicht das Ideal der Bolivianer.“ Es bleibt abzuwarten, ob diese Umstände auch von den internationalen Organisationen berücksichtigt werden. Vielleicht müssen die Kinder in Bolivien letztendlich zum Schluss kommen, dass das Ausland wenig Ahnung von der bolivianischen Wirklichkeit hat. Zweifellos sollte eine Lösung aber immer den lokalen Kontext und vor allem die Kinder selbst mit einbeziehen.

 

Hester Samoray ist Redakteurin bei matices. Ihren Master of Law hat sie im Fach Internationale Menschenrechte an der Europa Universität Viadrina absolviert. Nachdem sie als Redakteurin bei verschiedenen NGOs mitwirkte, reiste sie nun für den Südamerika-Blog von viventura nach Bolivien und berichtete über verschiedene Sozialprojekte im Land.

"In Artikel 32 der UN-Kinderrechtskonvention heißt es, dass Kinder vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt werden müssen."