Viele Sprachen – (k)eine Lösung?

Bedrohte Vielfalt der Maya-Sprachen inGuatemala

In Guatemala werden noch heute 22 verschiedene Maya-Sprachen gesprochen – eine Vielfalt, die einzigartig ist. Doch seit einigen Jahren drohen viele der indigenen Sprachen auszusterben. Mit Strategien wie einer Standardisierung versucht die Maya-Bewegung den Sprachverlust zu verhindern und damit der Globalisierung sowie der Kolonialvergangenheit zu trotzen.

von Mathias von Lieben

“El pueblo Maya existe porque tiene y habla idiomas propios.” Diesen Satz sagte 1991 Demetrio Cojtí Cuxil, einer der ersten Maya-Sprachwissenschaftler und zugleich die wichtigste intellektuelle Stimme der Maya-Bewegung in Guatemala. Er betonte damit nicht nur den historischen, sondern auch den aktuellen Kern der Maya-Identität: Sprache. In Guatemala allein existieren heute 22 Maya-Sprachgemeinden (comunidades lingüísticas) – zumindest noch. Denn: Diese Vielfalt ist seit einigen Jahren stark bedroht.

 

Um das Bedrohungsszenario besser nachvollziehen zu können, ist zuerst ein Blick auf die Geschichte notwendig. Nach drei Jahrhunderten unter dem spanischen Kolonialregime, das den Maya nicht nur den christlichen Glauben, sondern auch die spanische Sprache oktroyierte, wurden in Guatemala die kolonialen Muster auch nach der Unabhängigkeit 1840 aufrechterhalten. Konservative Regierungen kämpften für das Fortbestehen der hierarchisch-diskriminierenden Gesellschaftsstruktur und ethnische Identität basierte weiter auf der binären Opposition zweier Gruppen: den indígenas (Indigene) und den ladinos (Nicht-Indigene). Während Spanisch die offizielle Sprache der Eliten repräsentierte, waren die Maya subalterne Akteure, deren Sprachen als rückständige Dialekte degradiert wurden.

 

Nach der ethnischen Gewalt gegen die Maya-Bevölkerung im guatemaltekischen Bürgerkrieg (1960-1986) formierten sich viele Maya erstmals zu einer Bürgerrechts-Bewegung, die zwar hauptsächlich die bestehenden Machtverhältnisse bekämpfte, aber auch eine allgemeine Wiederbelebung der Maya-Kultur verfolgte. Durch die 22 unabhängigen Sprachgemeinden existierten jedoch auch immer 22 verschiedene Sichtweisen auf die Strategien der Bewegung – ein komplexes und sensibles Netzwerk. Das kollektive Ziel war jedoch klar: die Maya-Identität stärken und den drohenden Sprachverlust stoppen.

 

Von 1992 bis 2002 hat sich die Anzahl der Maya-Sprecher fast halbiert

 

Blickt man auf die heutige Situation der Maya in Guatemala, wird deutlich, dass eine solche Bewegung notwendig war und ist. Allein von 1992 bis 2002 hat sich laut den offiziellen Zensus-Daten die Anzahl der Maya-Sprecher fast halbiert. Der Anteil der Maya an der Gesamtbevölkerung Guatemalas (ca. 16 Mio. Einwohner) liegt laut der staatlichen Institution Dirección General de Educación Bilingüe Intercultural (DIGEBI) heute bei 42 Prozent. Von diesen sprechen nur noch 40 bis 50 Prozent eine Maya-Sprache (3,2 Mio.) - Tendenz abnehmend.

 

K’ichee’ bildet dabei laut dem Buch „Endangered Languages: Language Loss and Community Response“ von Lenore A. Grenoble und Lindsay J. Whaley mit ca. einer Million aktiven Sprechern die größte Sprache, gefolgt von Q’eqchi’, Kaqchikel und Mam, die jeweils zwischen 300.000 und 700.000 Sprecher vorweisen. Diese vier Sprachen befinden sich bisher in keiner akut bedrohten Situation. Itzaj hingegen ist die kleinste Sprache und wird schätzungsweise nur noch von 30 – 100 Maya gesprochen. Und das ist keine Ausnahme. Immer mehr Sprachgemeinden sind von dieser Entwicklung betroffen.

 

Manche Sprachgemeinden (Tejo, Mopan, Poqomam, Poptí) leiden darunter, dass viele Maya einen rasanten Sprachwechsel zum Spanischen vollziehen. Andere hingegen (Uspantek, Sipakapense, Sakapultek, Awakatek) werden ausschließlich in einer einzigen Gemeinde und damit nur von 1.500 – 4.000 Maya gesprochen und sind allein deswegen gefährdet. Die verbliebenen Sprachen (Akatek, Chuj, Poqomichi’, Ch’orti’, Ixil, Tz’utujiil, Q’anjob’al) haben unterschiedliche Verbreitung und zwischen 10.000 und manchmal gar bis zu 90.000 aktiven Sprechern. Die Entwicklung der vergangenen Jahre deutet auf einen weiteren Sprachverlust in allen genannten Gemeinden hin.

 

Obwohl die Ursachen für den Sprachverlust vielfältig sind, macht der bereits erwähnte Sprachwechsel zum Spanischen den Gemeinden am meisten zu schaffen. Dieser ist besonders bei Kindern und Jugendlichen in urbanen Regionen zu beobachten und häufig damit zu erklären, dass der Staat nur Spanisch als Amtssprache Guatemalas anerkennt. Zwar erkennt er auch die 22 comunidades lingüísticas an, sie sind jedoch in keiner Weise mit dem Status des Spanischen als Amtssprache zu vergleichen. Der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungseinrichtungen ist für die junge Maya-Generation daher meist nur mit guten Spanisch-Kenntnissen möglich.

 

„Die strukturelle Marginalisierung und gesellschaftliche Diskriminierung der Maya und der Verlust ihrer Sprachen haben also ihren Ursprung beim Staat“, sagt Paul van den Akker, der seit einigen Jahren an der Universität Leiden in den Niederlanden über das indigene Erbe und insbesondere die Maya in Guatemala forscht. Die Konsequenz der Unterdrückung: Viele Eltern fördern vermehrt den Erwerb der spanischen Sprache, während sie den der Maya-Sprachen vernachlässigen. Dies verstärkt den Trend zum Sprachverlust in der jungen Generation.

 

Bilinguales Bildungssystem als Mittel gegen den Sprachverlust

 

Doch wie kann eine solche Tendenz gestoppt werden? Zum Beispiel durch ein großflächiges, bilinguales Bildungssystem, mit dem die Maya-Sprachen auch gesellschaftlich aufgewertet werden könnten. DIGEBI (ehemals PRONEBI) konzipiert beispielsweise seit den 1960er Jahren bilinguales Lehrmaterial und war maßgeblich an der Errichtung von ca. 400 Maya-Schulen beteiligt. Ein Drittel der Schulen in indigenen Gemeinden ist daher heute bilingual ausgerichtet. Außerdem hat das Bildungsministerium diverse Projekte zur bilingualen Förderung angestoßen, von denen viele Maya profitieren. Doch besonders in ländlichen Gebieten kamen und kommen die Anstrengungen zu selten an. Oft mangelt es schlicht an geeigneten Lehrkräften oder an Vertrauen innerhalb der Maya-Bewegung gegenüber staatlichen Organisationen. Laut Zensus hat die Rate der bilingualen Maya-Bevölkerung jedoch von anfangs 20 Prozent bis 2002 auf 54 Prozent deutlich zugenommen.

 

Als weiteres Mittel gegen den Sprachverlust hat die Strategie der Sprach-Standardisierung in den vergangenen Jahrzehnten große Aufmerksamkeit erfahren. Dieser Prozess ist jedoch ebenfalls umstritten und sehr komplexer Natur. Obwohl alle 22 Maya-Sprachen eine gemeinsame Geschichte haben und von einem Protomaya abstammen, haben sie jeweils eigene grammatikalische und phonologische Regeln entwickelt und unterscheiden sich stark hinsichtlich des Vokabulars. Besonders in kleinen comunidades, deren Sprachspezifikationen deutlich von größeren Maya-Sprachen abweichen, ist die Angst groß, mit einer Standardisierung die letzten verbliebenen Merkmale der Sprache und damit auch der lokalen Identität zu verlieren.

Trotz dieser Bedenken hätte eine Standardisierung für Paul van den Akker einen entscheidenden Vorteil: „Eine standardisierte Sprache würde den Maya viel mehr Kraft und Aufmerksamkeit verleihen, um für kollektive Rechte einzutreten“.

 

Um in den 22 Sprachgemeinden jedoch intensiver auf den drohenden Verlust der Sprachen hinzuweisen und den Weg für eine Standardisierung zu ebnen, bedarf es ausgebildeter, erfahrener und angesehener Maya-Linguisten. Ausländischen Wissenschaftlern trauen viele Maya nur noch selten, seitdem sie in der Vergangenheit häufig bloß Objekt der Wissenschaft waren und selten aktiv Einfluss auf den Output nehmen konnten. Dieser Aspekt wird auch innerhalb der Theorie des Postkolonialismus stark kritisiert - eine radikale Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses könnte nach Meinung zahlreicher Autoren helfen.

 

Vereintes Maya-Alphabet und offizielle Anerkennung der Sprachgemeinden - revolutionäre Schritte

 

Um dem Sprachverlust intern zu begegnen haben sich seit den 1990er Jahren verschiedene Akteure und Organisationen aus der Maya-Bewegung herausgebildet. Die größte Bedeutung kommt hierbei der Academia de las Lenguas Mayas de Guatemala (ALMG) zu, die neben DIGEBI die zweite Organisation ist, die auf staatlicher Ebene Maya-Interessen vertritt. Die ALMG fungiert als offizieller Dachverband der Maya-Sprachen in Guatemala und hat seit ihrer Gründung 1986 und anschließender Anerkennung als offizielle Staatsinstitution 1991 viele Anstrengungen besonders bezüglich einer Sprach-Standardisierung unternommen. Als einer der ersten signifikanten Entscheidungen etablierten sie ein einheitliches Maya-Alphabet, das auch heute noch verwendet wird – damals ein revolutionärer Schritt. Es war die erste komplett autonome Entscheidung der Maya überhaupt auf staatlicher Ebene in Guatemala.

 

Im Anschluss hat die ALMG die heutigen 22 comunidades lingüísticas etabliert und linguistische Forschungsprojekte angeschoben. Die bloße Entstehung der ALMG sowie ihre erfolgreich umgesetzten Projekte haben unter Beweis gestellt, dass es durchaus Maya gibt, die technisch-linguistische Entscheidungen autark treffen können. Dadurch, dass nur Maya selbst Mitglieder der ALMG sind, ist es zudem viel einfacher, die Sprachgemeinden zu überzeugen und Fortschritte hinsichtlich Identitätsbildung, Autonomie und Selbstbestimmung zu machen. Die populäre demokratische Ausrichtung der ALMG, jeder Sprachgemeinde gleiches Stimmrecht bei Wahlen zuzugestehen, dient zwar einerseits dem Zusammenhalt, hemmt jedoch andererseits bedeutendere Entscheidungsprozesse. Trotzdem wurde das Bewusstsein für linguistische Probleme generell geschärft und so entstand innerhalb der Sprachgemeinden ein neues Selbstbewusstsein.

 

Es gibt noch einige weitere, nicht-staatliche Gruppierungen, die sich für die Interessen der Maya-Sprachgemeinden in Guatemala einsetzen, wie beispielsweise die Forschungsgruppe Oxlajuuj Keej Maya’ Ajtz’iib’ (OKMA). Als einzige Organisation in Guatemala schreibt OKMA Vollzeitstellen für Maya-Forschungsprojekte aus und ist damit über die Jahre zu der Organisation mit den kenntnisreichsten Maya-Linguisten Guatemalas geworden. Ferner haben sie in Kooperation mit der ALMG eine Liste mit detaillierten Vorschlägen und Kriterien dazu erstellt, wie eine Standardisierung der 22 Maya-Sprachen erreicht werden könnte. Zwar weisen viele OKMA-Mitglieder auf die einzigartige Vielfalt der Maya-Sprachen hin, streben jedoch generell auch nach einer konsensfähigen Standardisierung.

 

Die Mitglieder von OKMA sind meistens Absolventen der zwei privaten Universitäten Universidad Rafael Landívar (URL) und Universidad Mariano Gálvez (UMAG), die sich ihrerseits seit 1986 Maya-Linguistikkursen widmen und einen großen Teil zu einer besseren universitären Ausbildung beitragen. Daneben gibt es noch kleinere Projektgruppen, die ebenfalls

eine Standardisierung und intensivere Forschung vorantreiben wollen. Leider mangelt es bis heute noch daran, die verschiedenen Gruppen effektiver miteinander zu vernetzen. Zudem werden besonders die zwei staatlichen Organisationen (ALMG und DIGEBI) in vielen Maya-Gemeinden kritisch betrachtet, da ihnen unterstellt wird, sich als staatliche Akteure nur den Interessen des Staates unterzuordnen und einen Sprachwechsel zum Spanischen zu forcieren.

 

Vereinzelt haben sich drüber hinaus kleine, lokale Kollektive gebildet, die für den Gebrauch von Maya-Sprachen in ihren Gemeinden werben. So gibt es beispielsweise die Hip-Hop-Gruppe Balam Ajpu, die in einer standardisierten Form dreier lokaler Varietäten rappt und es somit schafft, traditionelle Maya-Werte mit einer popkulturellen Moderne zu verbinden. Damit werden zwar einerseits viele Maya der jüngeren Generation erreicht, andererseits ist der Einfluss oft nur auf einen kleinen geografischen Raum begrenzt. Außerdem tritt die Gruppe mit ihrer eigens kreierten Standardisierung in Opposition zu einer großflächigen, allgemeinen Standardisierung aller Maya-Sprachen.

 

„Es wird bestimmt noch Jahre dauern, bis die kolonialen Gesellschaftsstrukturen überwunden werden können“

 

Die Bemühungen der sowohl staatlichen als auch nicht-staatlichen Organisationen deuten darauf hin, dass der drohende Verlust einiger Maya-Sprachen sowie die Tendenz zum Sprachwechsel wahrgenommen wurden und dem entgegengesteuert werden soll. Standardisierung könnte hierfür eine Lösung darstellen, um das Überleben der vielen Maya-Sprachen langfristig zu sichern. Viele Maya-Wissenschaftler sehen darin auch die Chance, eine gemeinsame nationale Maya-Identität zu schaffen, die individuelle Elemente und Merkmale jeder Sprachgemeinde berücksichtigt und in die standardisierte Form aufnimmt und somit zu der Zufriedenheit aller konzipiert ist. Wie intensiv und ob Standardisierung überhaupt weiterhin verfolgt wird, entscheiden allein die Maya-Gemeinden in Guatemala. Auf politische Zugeständnisse des Staates ist dabei momentan nicht zu hoffen.

 

Paul van den Akker sieht die Entwicklung der Maya in Guatemala grundsätzlich positiv, betont aber auch die Komplexität des Prozesses: „Es wird bestimmt noch Jahre dauern, bis all die Anstrengungen der Maya-Bewegung einmal Früchte tragen und die kolonialen Gesellschaftsstrukturen überwunden werden können“, sagt er und fügt hinzu: „Der wichtigste Schritt wäre erst einmal, dass der Staat UNDRIP (United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples) implementiert, um die Gleichberechtigung indigener Gemeinden und ihrer Sprachen sowie die Anerkennung ihrer Kosmovision überhaupt zu gewährleisten.“

 

Mathias von Lieben ist Redakteur bei matices.

Um dem Sprachverlust intern zu begegnen, haben sich seit den 1990er Jahren verschiedene Akteure und Organisationen aus der Maya-Bewegung herausgebildet.