Sinn.Suche

Brasilianische Literatur der Jahrtausendwende (1994-2004)

von Claudius Armbruster

Die Jahrtausendwende und grosso modo die letzten zehn Jahre der brasilianischen Literatur stehen im Zeichen des Verschwindens der letzten drei „großen“ Schriftsteller: 1999 starb der Lyriker und Dramatiker João Cabral de Melo Neto, 2001 Jorge Amado, 2003 Raquel de Queiroz. Auf der anderen Seite hat Brasilien in dieser Zeit einige literarische Exportschlager hervorgebracht. Diese bewegen sich zwischen den Gegenpolen der unpolitischen, spirituellen Werke eines Paulo Coelho und harten Darstellungen der brasilianischen Realität in der „Favela-Fiction“: Cidade de Deus von Paulo Lins etwa machte durch seine Verfilmung im vergangenen Jahr weltweit Furore.

 

João Cabral de Melo Neto, Jorge Amado und Raquel de Queiroz stammten alle drei aus dem Nordosten Brasiliens. Diese arme und periphere Region stand auch im Mittelpunkt ihrer Werke. Cabral de Melo Netos Gedichte und Theaterstücke, etwa O Cão sem Plumas oder das Weihnachtsspiel Morte e Vida Severina durchwanderten literarisch den Staat Pernambuco, vom Sertão bis zur Küste, von der Dürrekatastrophe bis zum Elend der auf Stelzen gebauten Favelas im Mündungsgebiet der Flüsse Capibaribe und Beberibe in Recife. Jorge Amado (1912-2001) hatte mit dem politisch engagieren Kakao- und dem Zuckerrohrzyklus, später auch mit poetischen, humorvollen und erotischen Romanen, die Frauen als Mittelpunktsfiguren aufweisen, seine Heimat Bahia in der ganzen Welt bekannt gemacht. Die großen Nordostzyklen, die mit Raquel de Queiroz’ (1910-2004) Roman über die Dürrekatastrophe des Jahres 1915 O Quinze (1930) begonnen hatten, gehen damit zu Ende. Raquel de Queiroz war zudem die erste Frau, die in die Brasilianische Schriftstellerakademie, eine lange Zeit maskuliner Schriftstellerolymp, eingezogen war.

 

João Ubaldo Ribeiro (*1941), der auch als Drehbuchschreiber an Film- und Fernsehfassungen der Romane Jorge Amados beteiligt war, führt die Tradition des bahianischen Romans, der realistische und realmagische Passagen mischt, weiter fort; auch wenn seine letzten Romane O Feitiço da Ilha do Pavão (1997) und Luxúria: A Casa dos Budas Ditosos (1999) nicht mehr die erzählerische Kraft und Innovation von Viva o Povo Brasileiro aus dem Jahr 1984 besitzen.

 

Paulo Coelho – Sinnsuche im globalen Dorf

 

Fast hat es den Anschein, als ob die brasilianische Gegenwartsliteratur nach dem Ableben der letzten „Großschriftsteller“ nun immer mehr mit dem Namen des überaus erfolgreichen Paulo Coelho (*1947) verbunden sein wird. Coelho, ein früherer Hippie, Songschreiber (vor allem für Raul Seixas) und Medienmanager, hat im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts leicht lesbare, spiritistisch angehauchte Bücher publiziert, die, in 55 Sprachen übersetzt, allesamt nationale und internationale Bestseller wurden: O Diário de um Mago beschreibt seine Erfahrungen auf einer Pilgerreise auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela in einer Mischung aus esoterischer Emphase und alternativem Tourismus.

 

O Alquimista (1988), dessen Erstauflage zunächst kaum Leser fand, das aber mittlerweile zum meistverkauften brasilianischen Buch wurde, erzählt die Suche des spanischen Jungen Santiago nach einem Schatz, den er in ägyptischen Pyramiden wähnt und den ihm ein spiritueller Lehrer schließlich in seinem Inneren offenbart. Onze Minutos (2003) schließlich ist das erste Buch Coelhos, das etwas mit Brasilien zu tun hat und in dem Erotik und Sexualität im Mittelpunkt stehen. Maria, das Mädchen vom Lande, kommt an die Copacabana und wird Prostituierte, versucht schließlich – in einer für Coelho typischen Suche nach „inneren“ Werten - den Weg von der körperlichen zur wahren Liebe zu finden.

 

An beliebigen, aber oft symbolträchtigen oder mythischen Orten setzt Coelho zu einer immer unpolitischen Suche nach den scheinbar „unvergänglichen“ Werten im Inneren des Menschen an und es scheint, daß immer mehr Leser an verschiedensten Orten dieser globalisierten Welt ihm dabei folgen. Paulo Coelho ist der Schriftsteller des massenmedialen, globalen Dorfes, in dem sich Santiago de Compostela, der Orient, Paris und Ljubljana mischen und in einem einfachen brasilianischen Portugiesisch – fast ist man versucht von einem reduzierten literarischen Code zu sprechen – den Leser im Sog einer literarischen Lebens- und Seelenberatung einnebeln.

 

Ingredienzien der Literatur Coelhos sind die christliche und mittelalterliche Mystik (von der Suche nach dem Heiligen Gral bis zum Schwert Excalibur) in einer geschickten Mischung mit globalen Mythen, Kabbalistik, Spiritismus, Magie und allgemeinen Sinnfragen (Liebe, Tod), sowie Fragen der Selbstverwirklichung mit einfachen narrativen Ratschlägen.

 

Vor allem aber vermeidet Paulo Coelho jegliche realistische Auseinandersetzung mit der brasilianischen Realität. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend beherrscht Paulo Coelho den literarischen Markt Brasiliens und Lateinamerikas. Er ist der erfolgreichste und auflagenstärkste Schriftsteller Lateinamerikas im 21. Jahrhundert, ökonomisch erfolgreicher als Gabriel García Márquez. Coelho schafft eine leicht eingängige spiritistische Welt, eine Art global psychedelic village, zu der ein jeder Leser Zugang hat.

 

„Favela-Fiction“

 

Im Blick auf die letzten zehn Jahre (1994-2004) schuf Coelho mit seinen Romanen eine Art beruhigende Gegenliteratur zur ästhetischen Verarbeitung der omnipräsenten Gewalt und Kriminalität, zum Realismus und Hyperrealismus der „narrativa brutalista“ eines Rubem Fonseca und seiner Nachfolgerin Patrícia Melo (*1962). In deren Roman O Matador (1995) entwickelt sich der Ich-Erzähler, ein 23jähriger Autoverkäufer, in der Megapolis São Paulo eher zufällig zum Auftragskiller, in Acqua Toffana (1994, dt.: Ich töte, du stirbst) wird eine blinde Frau Opfer eines bizarren Mordes durch ein gut situiertes Ehepaar in Rio de Janeiro. In den postmodernen Romanen Melos, die oft etwas voreilig als Kriminalliteratur bezeichnet werden, geht es nicht immer nur um die Omnipräsenz der Gewalt und Grausamkeit im metropolitanen Alltag Brasiliens, sondern auch um deren Verarbeitung in den Medien, also um die Diskurse über Gewalt im Gehege von Realität, Fiktion und Virtualität.

 

Im Zusammenhang mit dem Thema der Gewalt und der Verwilderung der Großstädte entwickelte sich um die Jahrtausendwende die Favela zum ostentativen Erzählszenario in Brasilien. Fast könnte man vom Entstehen einer „Favela-Fiction“ sprechen, vom Erzählen über die Elendsviertel der brasilianischen Metropolen, in Literatur, Film und Fernsehen.

 

Die Favela-Fiction umfasst ganz verschiedene literarische Richtungen und Perspektiven: Zum einen die Literatur von Favelabewohnern, bzw. von Autoren, die aus der Favela stammen. Eine Gattung, die in Brasilien mit den von einem Journalisten redigierten Tagebüchern von Maria de Jesus Quarto do Despejo am Ende der 1950er Jahre begann und mit Paulo Lins fiktionalen Roman Cidade de Deus (1997) einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Letzterer Roman schildert das Entstehen einer Favela, den Kampf der Drogenclans um die Herrschaft in dem Armenviertel und die Versuche von Kindern und Jugendlichen, in diesem Drogenmilieu zu leben und zu überleben. Lins selbst stammt aus der Favela Cidade de Deus am Rand von Rio de Janeiro. Der Erfolg des Romans verdankt sich nicht unbedingt seinen ästhetischen Qualitäten, dazu gibt es - gerade in der ersten Fassung - zu viele Personen, Handlungsstränge- und Irrungen, Redundanzen und Larmoyanzen. Eher ist er der vieldiskutierten Transformation und Verfilmung durch den Regisseur Fernando Meirelles im Jahre 2001 unter dem internationalen Titel City of God zuzuschreiben.

 

Im Vergleich dazu erscheint Patrícia Melos Inferno (2000) gelungener, weil stringenter erzählt, auch wenn man ihm in seiner Stringenz, die Perspektive von außen – Melo stammt aus der Mittelschicht São Paulos – anmerkt. Ein Elendsviertel in Rio de Janeiro wird im Roman zur „Hölle“, einem einzigen Drogensumpf, aus dem es, im Unterscheid zur Cidade de Deus, kein Entrinnen, sondern nur den gewaltsamen Tod gibt. Zweifelhaft bleibt, ob die literarische Darstellung absoluter Brutalität und tödlicher Gewalt in den Favelas nun gut dokumentiert und damit einem realistischen Impuls gehorcht, oder ob doch eher – im Sinne einer Ästhetisierung des Häßlichen – Gewalt literarisch und filmisch konsumierbar werden.

 

Nicht weniger problematisch sind die dokumentarischen und halbfiktionalen journalistischen Erkundungen und Erfahrungsberichte über die Favela aus der Feder von Journalisten aus den Stadtvierteln der Oberschicht. Etwa Zuenir Venturas Cidade Partida (1994) oder Caco Barcelos nur wenig fiktionalisierte Geschichte des Drogenhändlers Marcinho VP Abusado (2003), der wenige Wochen nach Veröffentlichung des Buches in einem Gefängnis ermordet wurde. Das Faszinosum Favela, dass für viele Brasilianer alltägliche Präsenz und Bedrohung bedeutet, geriet durch Literatur, Presse und Film zum kulturellen Exportartikel.