Seiner Zeit voraus

Über die Tragik der Figur Allende

von Anneke Schaefer

Dreißig Jahre nach dem Putsch gegen die Regierung Salvador Allende hatte der Dokumentarfilmer Wilfried Huismann die Gelegenheit, in Chile Zeugen der Geschehnisse von damals zu befragen. In seinem Film „Verrat in Santiago - Wer erschoss Salvador Allende?“ spricht er mit dem Leibwächter des Präsidenten, Putsch-Generälen, dem damaligen US-Botschafter, einem KGB-General und mit hochrangigen chilenischen Regierungsmitgliedern. Alle sind Zeitzeugen. Aus diesen Mosaiksteinchen setzt sich ein völlig neues Bild zusammen.

 

 

Mit Salvador Allende starb am 11. September 1973 der Traum vom demokratischen Sozialismus. Viele Historiker gehen bis heute davon aus, dass Allende zum Zeitpunkt seines Todes allein war und dass es keine Zeugen gab. Dreißig Jahre später ergibt Huismanns Recherche, dass zwölf seiner Getreuen bei ihm waren, als er sich das Leben nahm. Für den Film bricht einer der wenigen Überlebenden, Allendes Leibwächter Pablo Zepeda, das Schweigen und erzählt vor der Kamera, was in den letzten Minuten in Allendes Leben geschah. Die Dokumentation Verrat in Santiago - Wer erschoss Salvador Allende?, die Wilfried Huismann für die ARDReihe „Politische Morde“ produzierte, widerspricht in vielen Punkten den Mythen über die chilenische Vergangenheit und wird die Diskussion möglicherweise erneut anheizen. So wurde - Erkenntnissen des Autors zufolge- die Rolle der CIA beim Sturz des sozialistischen Präsidenten bisher falsch eingeschätzt: Obwohl die USA sich bemüht hatten, Allendes Amtsantritt zu verhindern, erhielten CIAAgenten in Santiago die ausdrückliche Anweisung, sich nicht an dem Putsch zu beteiligen. Die USA und die Sowjetunion hatten sich zuvor verständigt. Beide wollten kein zweites Kuba und demzufolge keinen Versuch unternehmen, Allende zu retten.

 

Außerdem widerspricht der Film der Vorstellung, Pinochet habe den Putsch von langer Hand geplant und vorbereitet. In Wirklichkeit sei der General Allendist gewesen, einer seiner treusten Anhänger, jedoch mit zwiespältigem Charakter. In letzter Minute beging er Verrat: Erst als der Staatsstreich beschlossene Sache war, lief Pinochet über, zwei Tage vor dem Putsch. Auch Fidel Castro setzte eine Geschichtslüge in die Welt. In einer Rede in Havanna behauptete er, sein Freund Allende sei „heldenhaft“ im Kampf gegen die von der CIA gesteuerten Putschisten gefallen. In Wahrheit jedoch, so der Film, hatte Allende sich selbst das Leben genommen und zwar mit der Waffe, die Fidel ihm geschenkt hatte. Demnach starb er wie der Held einer griechischen Tragödie, moralisch unbesiegt, aber politisch gescheitert und einsam. Über Allendes Tod sagt der heute 86-jährige ehemalige Generalsekretär der KP Chiles im Interview: „Nicht, dass ich für Selbstmord bin. Aber er hat sich das gut überlegt und eine moralische Lektion erteilt. In einem Vers von Ernesto Cardenal heißt es: Sie glauben, dass sie ihn getötet haben, aber in Wahrheit haben sie einen Samen in die Erde gelegt.“

 

Interview mit Wilfried Huismann

 

Mit Wilfried Huismann, dem Autor des Dokumentarfilms Verrat in Santiago sprach Anneke Schaefer für Matices.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, einen Film über Allende zu drehen?

 

Über Allende wollte ich schon seit zwanzig Jahren etwas machen. Er hat mich als politische Figur sehr beeinflusst, ich habe mich sehr mit ihm identifiziert. Ich war damals aktiv in der Studentenbewegung und als Allende starb, starben auch unsere Hoffnungen auf eine Versöhnung von Sozialismus und Demokratie. Mit Allende war es ja das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass ein marxistisches Projekt mehrheitsfähig war und eine Mehrheit gewonnen hatte. Insofern war diese Schlacht, die eine der letzten des Kalten Krieges war, eine große Niederlage – ich habe sie als große Niederlage empfunden. Ich habe mich viel mit diesem Thema beschäftigt und bin dann 1981 auch nach Chile gegangen: Dort habe ich in einem Projekt der Katholischen Kirche, in einem Armenviertel im Norden Santiagos, mitgearbeitet. Ich habe den Widerstand kennen gelernt und die unglaubliche Grausamkeit der Pinochet-Diktatur. Ich habe damals angefangen zu schreiben. Eigentlich bin ich nur Journalist geworden, weil ich in Chile war und mich so stark mit der politischen Geschichte Chiles identifiziert habe. Jetzt steht der 30. Jahrestag des Putsches bevor und da war es für mich klar: Entweder kann man jetzt die Protagonisten des Aufstiegs und des Niedergangs der Unidad Popular noch einmal interviewen, oder es ist zu spät – auch rein biologisch.

 

Welches Publikum möchten Sie mit dem Film ansprechen? Richtet sich der Film auch an die Menschen in Chile?

 

Ich glaube, das ist für die ganze Welt interessant, für alle Menschen, die das 20. Jahrhundert verstehen wollen, oder die es miterlebt haben. Für mich war das, was mit Allende passierte, eines der Schlüsselerlebnisse und eigentlich der letzte Versuch der marxistisch- leninistischen Bewegung, politisch Erfolg zu haben – ein gescheiterter Versuch. Auch um zu verstehen, warum das gescheitert ist, glaube ich, dass das für alle Menschen, egal wo sie wohnen, von großem Interesse ist. Salvador Allende ist außerdem einer der wenigen Führer des 20. Jahrhunderts, der parteien- und länderübergreifend eine große persönliche Ausstrahlung und Glaubwürdigkeit hat, den mehr getrieben hat als Macht und der eine große politische Fähigkeit hatte, für sein Projekt zu begeistern. In Chile hat das natürlich eine ganz besondere Bedeutung. Für mich ist es auch eine große Ehre und auch toll zu wissen, dass ein chilenischer Fernsehsender, nämlich Chilevision, meinen Film ungekürzt zeigen will. Das bedeutet für diesen Sender auch einen gewissen Mut, weil Pinochet in Chile ja immer noch eine Schattenmacht ausübt, die sehr stark und sehr groß ist. Pinochet kommt in diesem Film nicht als Held weg, sondern als Feigling und als persönlicher Verräter.

 

Glauben Sie, dass die Auswirkungen der Militärdiktatur in Chile immer noch präsent sind?

 

Chile ist ein erfreulich normales Land geworden, in vielerlei Hinsicht, zum Beispiel was das selbstverständliche Ausüben demokratischer Rechte oder die wirtschaftliche Entwicklung betrifft; neuerdings finde ich das auch im Bereich der sozialen Entwicklung. Das ansonsten sehr schlechte Gesundheits- und Bildungssystem hat sich stark verbessert. Es ist zwar immer noch schwach, aber im Vergleich mit Ländern, die ähnliche strukturelle Probleme haben, ist da viel passiert in den letzten Jahren, das muss man einfach anerkennen.

 

Die Versöhnung des gespaltenen Chile hat nicht stattgefunden, und wenn, dann nur auf der Ebene der politischen Führungskräfte, die kommen ganz gut miteinander aus... Aber nicht auf der Ebene des Volkes oder der Betroffenen, das ist eine künstliche Versöhnung. Man spürt die Konflikte und dass es eine offene Wunde ist, die es zu verdecken gilt. Die Angehörigen der Verschwundenen, die Tausenden, die gefoltert wurden, die gefangen waren, traumatisiert sind, ins Ausland getrieben wurden, verdrängen immer noch vieles, auch wenn sie darüber sprechen. Es gibt auch viele Opfer, die überhaupt nicht darüber sprechen wollen. Es ist vielleicht noch zu früh, und sicher dauert es noch lange, bis die Versöhnung richtig anfängt. Die Wunden sind noch offen und es kann meines Erachtens keine Versöhnung geben, bevor es keine Gerechtigkeit gibt. Das ist der wunde Punkt in Chile. Die Justiz, die unter Pinochet schon vollkommen versagt hat, weil sie im Gegensatz zur Kirche zum Beispiel nicht einmal Menschen gerettet hat, diese Justiz versagt auch heute in der Aufarbeitung des Unrechts. Es gibt wenige Richter und Staatsanwälte, die sich überhaupt mit diesem Thema befassen – und die, die es gemacht haben, sind eigentlich marginalisiert oder aus dem Amt entfernt worden – wenige, die sich das überhaupt trauen, Menschenrechtsfragen anzugehen, und zum Beispiel zu sagen: „Ja, wir haben hier Tausende von schwer Gefolterten, man müsste doch wenigstens die Urteile gegen diese Menschen, die von Kriegsgerichten ausgesprochen wurden, die ja nur Fassade von Rechtsstaatlichkeit waren, annullieren, und eigentlich weitergehende Wiedergutmachung leisten.“ Das sind Forderungen, die in jedem Rechtsstaat normal wären und sie sind in Chile noch nicht auf der Tagesordnung. Der einzige Richter, der im Moment ernsthaft gegen die Täter, auch wenn sie ranghöher sind, ermittelt, ist Juan Guzmán, so eine Art chilenischer Garzón, der es aber sehr schwer hat, sich durchzusetzen und stark angefeindet wird. Aber er ist auch der einzige, der sich getraut hat, Pinochet anzuklagen.

 

Gab es Probleme bei den Arbeiten in Chile?

 

Für mich ging alles überraschend gut. Auch die „Täter- Seite“, die beiden Generäle Canessa und Palacios, die ausgerechnet diejenigen sind, die den Moneda-Palast militärisch eingenommen haben, waren relativ schnell bereit zu einem Gespräch, was chilenische Kollegen nicht erwartet haben. Für diese chilenischen Militärs ist es leichter mit ausländischen, vor allem mit deutschen Journalisten zu sprechen. Sie sind selber sehr deutschfreundlich. Sie leiten die ganze militärische Tradition aus der glorreichen deutschen Militärtradition ab. Und sie haben reden können, sie haben ihren Standpunkt erklären können. Sie wollten, dass man ihre Gedanken und Motive auch mitberücksichtigt.

 

Welche Ziele verfolgen Sie mit ihrer Arbeit?

 

Mir liegt sehr viel daran, die Wahrheit zu erfahren und sie zu erzählen, auch wenn sie manchmal bitter ist und den eigenen politischen Vorstellungen entgegen läuft. Zum Beispiel war es für mich zunächst befremdend festzustellen, dass die CIA nicht hinter dem Putsch steht, sondern erst zwölf Tage vorher davon erfahren hat, und dass es sogar einen Beschluss der Nixon-Regierung gibt, dass CIA-Agenten in Santiago keinerlei Kontakt aufnehmen durften mit den Putsch-Offizieren. Das stört so Vereinfachungen, die viele Menschen auch in Europa gemacht haben, weil sie damit das Zentrum des Bösen lokalisieren konnten: Washington, die CIA. Und ohne die Verbrechen der Militärs zu relativieren glaube ich, dass die chilenische Linke einen großen Teil der Verantwortung am Militärputsch mitträgt, durch politische Fehler, durch das Nicht- Respektieren des Mehrheitswillen, durch halsbrecherische Überlegungen, selbstmörderische Überlegungen, den Prozess mit Gewalt fortzuführen, durch Gründung von Volksmilizen und ähnliche abenteuerliche Ideen, die Allende alle abgelehnt hat. Aber er konnte sich nicht durchsetzen. Das ist seine Tragik. Er ist genauso an seiner eigenen Partei, an den Linksradikalen in der Unidad Popular, gescheitert wie am Widerstand der Rechten.