Chile im Schatten des 11. September 1973

In Chile wird das Datum des 11. September nicht erst seit dem Terroranschlag auf das World Trade Centre in New York mit Angst und Schrecken in Verbindung gebracht. Seit 30 langen Jahren erinnert man sich an diesem Tag an einen gewaltsamen Wendepunkt der Geschichte. Am 11. September 1973 stürzten Extremisten des chilenischen Militärs in einem blutigen Putsch die Regierung Salvador Allendes und legten damit den Grundstein für das Terrorregime von General Augusto Pinochet.

von Ina Rottscheidt

Drei Jahre zuvor, am 4. September 1970 war der Sozialist Salvador Allende als Kandidat eines aus sieben Parteien bestehenden Volksfrontbündnisses, der Unidad Popular, als Sieger aus demokratischen Wahlen hervorgegangen. Mit seiner Politik strebte er den „chilenischen Weg zum Sozialismus“ an und fokussierte vor allem eine Landreform und die Verstaatlichung der vorwiegend in ausländischer Hand liegenden Kupferminen. Damit setzte er fort, was bereits sein Vorgänger, der Christdemokrat Eduardo Frei – wenn auch in weitaus gemäßigterer Form – auf den Weg gebracht hatte. Durch die Radikalität allerdings, mit der Allende die Reformen durchsetzte und kompromisslos alles dem sozialistischen Projekt unterordnete, zog er den Widerstand und die Macht derjenigen auf sich, die durch seinen Reformkurs benachteiligt wurden, dies sowohl im In- als auch im Ausland.

 

Innerhalb Chiles sollten vor allem zwei Maßnahmen negative Folgen für die Allende-Regierung nach sich ziehen. Zum einen die Agrarreform, die zu einer besseren Verteilung des Landes und der Einkommen beitragen sollte. Zwischen 1971 und ‘72 wurden daher rund 5,8 Millionen Hektar Boden durch die Regierung umverteilt. Parallel dazu bildeten sich aber linksradikale Milizen heraus, die sich illegal Land aneigneten, und deren Vorgehen von der Regierung aber immer wieder geflissentlich übersehen wurde. Zum anderen hatte die Regierung die wirtschaftlichen Konsequenzen der Gehaltserhöhungen für die Arbeiterklassen bei gleichzeitiger Preiskontrolle falsch eingeschätzt. Sie erweckten zwar zunächst den Eindruck von Wohlstandssteigerung, führten aber bereits zu Beginn des Jahres 1972 zu stetig wachsenden Inflationsraten.

 

Des weiteren ließ Allende im Zuge seines „sozialistischen Experiments“ die chilenischen Kupferminen, die sich in US-amerikanischer Hand befanden, de facto entschädigungslos enteignen. Die betroffenen US-Konzerne in Chile zogen daraufhin ihre Techniker aus dem Land ab und stoppten die Lieferung wichtiger Ersatzteile. Infolgedessen sank die Produktivität der chilenischen Kupferminen massiv, wobei Kupfer eines der wichtigsten Exportgüter des Landes bildete.

 

Scheitern der Reformen

 

Die Reformen hatten neben der negativen wirtschaftlichen Entwicklung eine zunehmende Rechtsunsicherheit zur Folge. Anarchische Zustände prägten fortan das Klima, wodurch die Gesellschaft sich immer stärker polarisierte. Immer öfter radikalisierten und verlagerten sich Auseinandersetzungen auf die Straße, wie beispielsweise ein Streik der Fuhrunternehmer im Oktober 1972, der sich zu einer Protestbewegung des gesamten Mittelstandes ausweitete; immer wieder zogen Frauen der Mittel- und Oberschicht Kochtöpfe schwenkend durch die Straßen, um in den danach benannten „Märschen der leeren Töpfe“ die zunehmende Versorgungsknappheit anzuklagen. Zu dem Zeitpunkt lag die Inflationsrate bereits bei 300%, die Talfahrt der Wirtschaft schien unaufhaltsam und entgegen seiner ursprünglichen Ankündigungen verschuldete Allende Chile in seiner Amtszeit um über 822 Millionen US-Dollar.

 

Zusätzlich zog der Präsident mit seinem Vorgehen gegen die US-Konzerne, zumal in Zeiten des Ost-West-Konfliktes, den Groll der US-Regierung auf sich: Zwischen 1970 und ‘73 erreichten die bilateralen Beziehungen einen Tiefpunkt. Nicht selten wurde infolge dessen dem amerikanischen Geheimdienst eine Beteiligung am chilenischen Putsch nachgesagt. Dass diese zumindest in Form finanzieller Unterstützung wie auch durch die Ausbildung chilenischer Generäle an amerikanischen Eliteakademien erfolgte, gilt heute als erwiesen.

 

Der Putsch

 

Die internen und externen Krisenfaktoren, gepaart mit dem ideologischen Aspekt, ließen die politische Lage eskalieren. Im Sommer 1973 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass Chile sich am Rande eines Bürgerkrieges befand. Als Allende schließlich für den 12. September aufgrund der schwierigen Lage ein Referendum zu seinem Amtsverbleib ankündigte, kamen ihm die Militärs zuvor: Am Morgen des 11. Septembers besetzten Regimenter die Radiostationen des ganzen Landes, Militärs marschierten in Santiago auf und begannen mit der Bombardierung des Regierungsgebäudes La Moneda. Wiederholt lehnte Allende das Angebot der Militärs, ins Exil zu gehen, ab und verkündete in seiner letzten Ansprache: „pagaré con mi vida la defensa de principios que son caros a esta patria, [...] pagaré con mi vida la lealtad del pueblo.“ Gegen 14 Uhr starb der chilenische Präsident bei der Verteidigung des Palastes. Bis heute ist umstritten, ob Allende dabei dem Kugelhagel der Putschisten zum Opfer fiel oder Selbstmord beging. Die offizielle Version lautete und lautet noch immer Suizid. Mit dem Tod Allendes war die Gewalt jedoch keineswegs beendet: in den folgenden Tagen wurden Tausende von Menschen festgenommen, verhört, brutal gefoltert und umgebracht. Im Namen der „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ übernahm die Militärjunta die Macht über das Land: das Parlament wurde mit sofortiger Wirkung aufgelöst, die Gouverneure der Regionen verhaftet. Versuche des bewaffneten Widerstands wurden schnell und brutal nieder geschlagen, so dass sich bereits am 15. September die Zahl der Todesopfer auf ca. 4000 belief. Im Dezember 1973 ernannte sich der Führer der Militärs, General Augusto Pinochet selbst zum neuen Präsidenten des Landes. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 80 Prozent der sozialistischen Reformen zurück genommen, Bauern enteignet und Verstaatlichungen revidiert worden. Demokratische Grund- und Menschenrechte waren faktisch ausgehebelt, Wahlen gab es - ebenso wenig wie oppositionelle Parteien oder Gewerkschaften - nicht mehr.

 

Hunderttausende waren bereits in Polizeigewahrsam, verschleppt oder saßen in Konzentrationslagern, 800.000 Chilenen gingen bis 1976 ins Exil. Diese Gewalt sollte sich fortan für 17 lange Jahre wie ein roter Faden durch die chilenische Politik ziehen. Unter dem faschistischen Terrorregime Pinochets wurden Hinrichtungen, Todesschwadrone, Folter und Verschwinden zur Routine.

 

Übergang zur Demokratie

 

Erst im Juli 1989 zeichnete sich ein demokratischer Wandel in Chile ab: Pinochet ließ ein Referendum zu, in dem sich über 80 Prozent für die Beschränkung der Befugnisse des Präsidenten und die Verkürzung seiner Amtszeit aussprachen. Dies ermöglichte freie Wahlen am 14.12.1989, aus denen der Christdemokrat Patricio Aylwin als Sieger hervorging und das Präsidentenamt antrat. Aylwins erste Regierung war eine aus verschiedenen Parteien zusammengesetzte Concertación para la Democrácia (Concertación), die vor der schwierigen Aufgabe stand, nach dem gewaltlosen Übergang die politische und ideologische Spaltung des Landes zu überwinden und für politische und wirtschaftliche Stabilität zu sorgen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass Pinochet selbst Oberbefehlshaber der Streitkräfte blieb und viele seiner Anhänger weiterhin wichtige politische Ämter bekleideten. Viele Gesetze aus der Zeit der Diktatur schränkten den Handlungsspielraum der folgenden demokratischen Regierungen ein. Zum Beispiel verhindert das Amnestiegesetz von 1978 bis heute die Verurteilung von Militärs für Verbrechen, die zwischen 1973 und 1978 begangen wurden - etwa 80 Prozent der offiziell erfassten Gewalttaten des Regimes fallen in diese Zeit.

 

Straffreiheit für die Täter

 

Im Oktober 1998 wurde Pinochet auf einer Privatreise nach London unter Hausarrest gestellt, nachdem Spanien seine Auslieferung wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen beantragt hatte. Nach monatelangen Diskussionen schließlich betrachtete ein Londoner Gericht Pinochets Immunität als Senator auf Lebenszeit als in Europa nicht wirksam, womit einer Auslieferung nichts mehr im Weg gestanden hätte.

 

Doch die chilenische Regierung machte nun den schlechten Gesundheitszustand Pinochets geltend und nach zahlreichen medizinischen Gutachten musste der britische Innenminister Jack Straw verkünden, dass das Verfahren gegen Pinochet nunmehr aus „humanitären“ Gründen nicht fortgesetzt werden könne. Nach über 500 Tagen Zwangsexil kehrte Pinochet nach Chile zurück, wo ihn mittlerweile über 70 Anklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen erwarteten. Doch erneut wurden die Hoffnungen tausender Opfer auf Gerechtigkeit enttäuscht, denn im Juli 2001 entschied das Berufungsgericht von Santiago, dass Pinochet aufgrund seines altersbedingten Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, ein Verfahren durchzustehen und schloss es. Im Juli 2002 verzichtete Pinochet zudem auf seinen Senatorenposten auf Lebenszeit, womit automatisch sein Anrecht auf Immunität als ehemaliger Präsident wirksam wurde. Damit wurden die Akten im Fall Pinochet de jure geschlossen.

 

Bis heute wird die Regierungszeit der Unidad Popular von der chilenischen Bevölkerung höchst unterschiedlich bewertet. Während ein großer Teil Hoffnungen hinsichtlich mehr sozialer Gerechtigkeit in diese Regierung gesetzt hatte, wurde sie vor allem von Unternehmern, (Groß-) Bürgertum und Latifundisten als „kommunistischer Alptraum“ empfunden.

 

Der 30. Jahrestag des Putsches gegen Allende hat in Chile auch die Diskussion über die dunkle Etappe der Diktatur wieder verstärkt. Im April 2003 wurde Manuel Contreras, der Chef des ehemaligen Geheimdienstes, zu 15 Jahren Haft verurteilt. Er war der erste Putschist, der wegen des „Verschwindens“ eines politischen Gefangenen bestraft wurde. Im Frühsommer kündigte die Regierung von Präsident Lagos an, finanzielle und moralische Entschädigung für Opfer der Diktatur zu gewähren, und den Prozeß gegen mehr als 160 ehemalige Mitglieder des Militärs zu beschleunigen, um dieses Kapitel de r chilenischen Geschichte "endlich abschließen" zu können.