'Thanatos' stürmt die entmilitarisierte Zone

Das Ende des Friedensprozesses in Kolumbien

von Sebastian Rötters

Nun ist er also vorbei, jener Friedensprozess, der am 9. Juli 1998 seinen Anfang nahm, als sich der frisch zum Präsidenten gewählte Andrés Pastrana und der Chef der Fuerzas Armadas Revolucionarias Colombianas (FARC), Pedro Antonio Marin alias Tirofijo in Kolumbiens Urwald trafen. Am 7. Januar 1999, begannen dann offiziell die Friedensgespräche mit einem großen Akt in San Vicente del Caguán 200 Kilometer südlich von Bogotá. Für die Friedensverhandlungen hatten Regierung und FARC vereinbart, dass sich die kolumbianische Armee aus einem Gebiet von der Größe der Schweiz zurückzieht und die Guerrilla die Verantwortung für Sicherheit und Ordnung in dieser Zone übernimmt. In den vergangenen dreieinhalb Jahren gab es viele Treffen, viel Streit, viele Vorschläge und viele Diskussionen - einzig konkrete Resultate blieben Mangelware. Am 20. Februar 2002 erklärte Pastrana den Friedensprozess mit den FARC endgültig für gescheitert.

 

Auslöser für den abrupten Abbruch war die Entführung des Senators Jorge Eduardo Gechem Turbay. Das Flugzeug, in dem sich neben ihm 34 weitere Menschen auf dem Weg von Neiva nach Bogotá befanden, war von FARC-Rebellen zur Landung auf einer Landstraße gezwungen worden, bevor man ihn verschleppte. Daraufhin gab Präsident Pastrana der Armee den Befehl, die entmilitarisierte Zone wieder einzunehmen und reaktivierte die Haftbefehle für die Verhandlungsführer der FARC. Kurz darauf begann die Armee, Ziele innerhalb des Gebietes zu bombardieren. Wenige Stunden später zog sie in die Provinzhauptstadt San Vicente del Caguán ein. Der Name der auf sechs Wochen angelegten Militäroperation lautet „Thanatos“, der Tod, in der griechischen Mythologie Bruder des „Hypnos“ (der Schlaf).

 

Keine „Robin Hoods“

 

In einer Fernsehansprache kurz nach der Entführung gab ein sichtlich aufgebrachter Präsident den FARC die alleinige Schuld am Scheitern der Verhandlungen. Das Verhalten der FARC sei eine Ohrfeige für die Hoffnungen der 40 Millionen Kolumbianer auf Frieden. Er habe sein Wort immer gehalten, sei aber von den FARC ständig an der Nase herumgeführt worden. Nun aber hätten sich die FARC endgültig für den Terrorismus entschieden, die Masken fallen gelassen und jegliche Unterstützung in der Bevölkerung verloren. Die Nationen dieser Welt wüssten nun, dass die FARC keine „Robin Hoods“ seien, die für das unterdrückte Volk kämpfen würden. Während die Guerrilla soziale Verbesserungen einforderten, schufen sie ringsum nur Elend, Arbeitslosigkeit und Schmerz. Er warf ihnen vor, die entmilitarisierte Zone für unerlaubte Zwecke missbraucht zu haben und nannte als Beispiele die Zunahme des Kokaanbaus in der Region, den Bau von Straßen durch den Regenwald und von Landebahnen für illegale Zwecke. Im Gegensatz dazu habe seine Regierung mit dem „Plan Colombia“ das umfangreichste Programm von Investitionen im sozialen Bereich in Gang gesetzt. Kolumbien aber sei gerüstet und bereit, sich zu verteidigen. Die Streitkräfte pries er als die „größten, professionellsten, fähigsten und als die am besten ausgerüsteten in der Geschichte Kolumbiens.

 

Die Antwort der FARC ließ nicht lange auf sich warten. Von einem unbekannten Ort in den Bergen meldeten sich einen Tag später die Verhandlungsführer Raul Reyes, Joaquín Gómez, Carlos Antonio Losada, Simón Trinidad und Andrés París zu Wort. Sie wiesen die Unterstellung, in den Drogenhandel verwickelt zu sein, von sich. Die Kokapflanzen würden schließlich den armen, vom Staat vergessenen Bauern gehören, die aus Mangel an Alternativen zu diesem Mittel der Existenzsicherung greifen müssten. Des weiteren sei es keine Verletzung der Abkommen gewesen, Straßen und Brücken zu bauen, die der Staat in 36 Jahren nicht habe bauen wollen. Auch die Reparatur von Landebahnen, die bereits vorher mit offiziellen Lizenzen betrieben worden waren, ließe sich ihrer Meinung nach kaum als Argument ins Felde führen, ihren Friedenswunsch zu bezweifeln. Außerdem lasse der Staat den Konflikt eskalieren, vor allem durch den Terrorismus der Paramilitärs, die mit offener Unterstützung einiger hochrangiger Militärs operierten. Nun stellt sich die Frage, wer Sieger und wer Verlierer dieses Verhandlungsabbruchs ist. Welche Auswirkungen hat der Abbruch auf die Bevölkerung in den fünf Gemeinden und im übrigen Kolumbien?

 

Kredit verspielt

 

Die FARC haben in den letzten Jahren durch ihre Aktionen sehr viel Kredit bei der Bevölkerung verspielt. Dazu trug auch die nicht objektive Berichterstattung der kolumbianischen Massenmedien bei, jedoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Worte und Taten bei der größten Guerrillaorganisation des Landes immer häufiger im krassen Widerspruch zueinander stehen. Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit sind nur schwer in Einklang zu bringen mit den ständigen Verletzungen des Internationalen Humanitären Rechts. Die Entführungen zur Erpressung von Lösegeld haben nicht nur zugenommen, sie haben sich in den letzten Jahren auch qualitativ verändert. Längst sind nicht mehr nur reiche Kolumbianer und Ausländer Opfer, sondern zunehmend auch Mitglieder anderer sozialer Klassen. Ebenso verwerflich sind die Angriffe mit Gaszylindern, die aufgrund ihrer immensen Zerstörungskraft und der geringen Zielgenauigkeit nur allzu oft das Leben von Zivilisten kosten. Eine Beurteilung der FARC-Handlungen ist vor allem deswegen schwierig, weil sich häufig nur die parteiischen Meldungen der Medien und die Communiqués der Rebellen gegenüberstehen. Recht hat Präsident Pastrana sicherlich in einem Punkt: die FARC sind weit davon entfernt, „Robin Hoods“ zu sein.

 

Pastrana kann allerdings auch für sich nicht reklamieren, alles für ein mögliches Friedensabkommen getan zu haben. Aus seiner Präsidentschaft stechen zwei Vorhaben heraus: Erstens die Friedensverhandlungen und zweitens der sogenannte „Plan Colombia“.Bei den erstgenannten hat er – anders als von ihm behauptet – kaum nennenswerte Zugeständnisse gemacht. Die Räumung des Verhandlungsgebietes war für Pastrana eher ein symbolischer Akt, als eine wirkliche Aufgabe von Staatsterritorium. Zwar musste die Armee das „Batallón Cazadores“, räumen, aber in weiten Teilen der fünf Gemeinden war der Einfluss des Staates aufgrund des jahrzehntelangen Desinteresses schon vorher gering. Die FARC kontrollierten schon seit vielen Jahren weite Bereiche des Gebietes. Die Bevölkerung in den fünf Gemeinden hingegen war zurecht empört darüber, nicht gefragt worden zu sein, ob man mit der Zone einverstanden sei. Sie ist auch jetzt wieder die Hauptleidtragende.

 

Während die FARC-Rebellen schon vor Wochen einen Großteil ihrer Kämpfer aus dem Gebiet abgezogen und zahlreiche Büros geräumt hatten, ist die Zivilbevölkerung den Bombenangriffen der Armee ausgesetzt. Der Name „Thanatos“ lässt das Schlimmste befürchten.

 

Plan Colombia als soziale Investition?

 

Dass es Pastrana nicht allzu ernst meint mit dem Frieden wurde spätestens 1999 klar, als er den „Plan Colombia“ verkündete. Dieser von ihm als größte soziale Investition in der Geschichte Kolumbiens gepriesene Plan hat bis zum heutigen Tag eigentlich nur ein Ziel verwirklicht: die Stärkung der kolumbianischen Armee durch US-Militärhilfe. Mehr als eine Milliarde US-Dollar sind den Streitkräften in Form von „Black Hawk“- und „Huey“-Kampfhubschraubern, Ausbildung von „Anti-Drogen-Batallionen“ usw. zugute gekommen. Massive Besprühungen von Kokafeldern konnten die Anbaufläche nicht wirklich reduzieren, verursachten jedoch die Flucht tausender zusätzlicher Menschen in die Elendsviertel der Großstädte. Welche sozialen Investitionen er aber gemeint haben könnte bleibt jedem schleierhaft, der in den letzten Jahren das Land besucht hat. Seit seinem Amtsantritt ist die Zahl der Arbeitslosen auf 16,8 Prozent angestiegen. Nicht berücksichtigt sind hierbei die große Zahl der Unterbeschäftigten, die bei ca. 38 Prozent liegt sowie die enorm gestiegene Zahl derer, die im informellen Sektor ihr täglich Brot verdienen. Nach neuesten Zahlen leben 60 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die Einwohnerzahl von „Ciudad Bolívar“, dem Elendsviertel im Süden Bogotás, ist mittlerweile auf schätzungsweise eine Million angeschwollen. Soziale Investitionen sahen dort in den letzten Jahren eher so aus, dass die Stadtverwaltung Farbe spendete, damit die Bewohner ihre armseligen Behausungen „verschönern“ konnten. Das soziale Engagement der Regierung Pastrana hat den Namen „Operation Hypnos“ verdient.

 

Die mit US-Geldern enorm aufgerüstete Armee unterhält noch immer beste Beziehungen zu den paramilitärischen Einheiten der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC). Zwar entließ der Präsident 1999 zwei Generäle, denen Unterstützung und Zusammenarbeit mit paramilitärischen Einheiten vorgeworfen wurde, dies geschah aber nur auf internationalen Druck und erweckt den Eindruck eines Bauernopfers. Besonders eindrucksvoll sind diese guten Beziehungen seit Dezember 2000 in der Erdölmetropole Barrancabermeja zu beobachten. Nachdem die Armee dort ihre Kräfte enorm verstärkt hatte, um für Recht und Ordnung zu sorgen, begann Weihnachten die Einnahme nahezu sämtlicher Stadtviertel durch die AUC. Anders als in den vorangegangenen Jahren blieben die AUC-Männer diesmal aber in den Vierteln, besetzten ganze Häuser und waren quasi ständig präsent. Die zahlreichen Morde sorgten zwischenzeitlich sogar für eine Verlegung der Unterrichtszeit in den Schulen, um den Kindern die Schießereien und die Toten in den frühen Morgenstunden zu ersparen. Seit ihrer Machtübernahme drangsalieren die AUC die Bevölkerung mit faschistoiden Methoden. So wurde eine Frau, deren Mann sie des Ehebruchs bezichtigt hatte, von ihnen gezwungen, sich nackt auf eine belebte Kreuzung zu stellen. Um den Hals trug sie dabei ein Schild mit der Aufschrift: „Ich bin eine Hure!“ Polizei und Militär taten nicht gegen dieses so genannte „toma de barrios“. Zu allem Überfluss wurde im August 2001 das Gesetz der Nationalen Verteidigung und Sicherheit (Ley de Defensa y Seguridad Nacional) erlassen. Es räumt den Sicherheitskräften in bestimmten Regionen Ermittlungsfunktionen ein und beschränkt eben diese für die zivilen Ermittlungsbehörden bei Untersuchungen von Menschenrechtsverletzungen durch Militärs.

 

Carlos Castaño: Vom Saulus zum Paulus?

 

Die AUC sind die eigentlichen Sieger des Friedensprozesses und seines Scheiterns, da sie während der Verhandlungen ihre Offensive im ganzen Land mit brutaler Härte fortsetzten und mittlerweile über 8.000-14.000 Kämpfer verfügen. Neben den militärischen Erfolgen haben die AUC aber auch beachtliche politische und „mediale“ Erfolge vorzuweisen. Der ehemalige militärische und jetzige politische Führer der Autodefensas, Carlos Castaño, war in den letzten Jahren mehrfach in langen Fernsehinterviews zu sehen, in denen er der Nation erklärte, dass die Taten der AUC „gar nicht so schlimm und einfach dringend notwendig seien“. Und das, obwohl er seit langem offiziell per Haftbefehl gesucht wird.

 

Nach den Parlamentswahlen vor wenigen Wochen jubelten Vertreter der AUC, dass sie 35 Prozent der Kongressabgeordneten hinter sich wüssten. Entscheidend beigetragen zu diesem Erfolg hat sicherlich die geänderte militärische Strategie. Zwar kam es vereinzelt noch zu größeren Massakern wie im April 2001, als Paramilitärs im Gebiet des Alto Naya über 40 Menschen folterten und umbrachten, ansonsten verlegten sie sich aber eher auf selektive Morde, die nicht soviel Öffentlichkeit erregen. Die AUC erscheint in den Medien als das geringere Übel oder gar als Retter des Landes.

 

„Eine Million Kolumbianer unter Waffen“

 

Von dieser Stimmung im Land profitiert auch Alvaro Uribe Vélez, liberaler „Dissident“ und zur Zeit aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat. Er rief seit langem zur Beendigung der Gespräche mit den FARC auf und forderte vor kurzem „eine Million Kolumbianer unter Waffen“, um das Land gegen die Subversion zu verteidigen. Solch markige Worte haben dem ehemaligen Bürgermeister von Medellín und Gouverneur des Departments Antioquia die besten Umfragewerte für die Wahl im Mai eingebracht. Vielen Menschenrechtlern, Gewerkschaftern und sozial engagierten Menschen treiben sie den Angstschweiß auf die Stirn. Nur zu gut sind ihnen die CONVIVIR, jene privaten legalen Sicherheitsdienste in Erinnerung, die Uribe während seiner Zeit als Gouverneur schuf und die als legale paramilitärische Einheiten an unzähligen Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Auch sonst werden ihm beste Beziehungen zu Paramilitärs und Drogenmafia nachgesagt. Da der einzig ernstzunehmende Gegenkandidat erneut Horacio Serpa ist, steht einem Sieg Uribes scheinbar nichts mehr im Weg. Die Lage ist dementsprechend schlecht. Die FARC werden sowohl Pastranas „Thanatos“ als auch der „Million Kolumbianern unter Waffen“ gezielte Angriffe und Anschläge entgegensetzen, wobei nicht auszuschließen ist, dass sie versuchen werden, den Krieg verstärkt in die großen Städte zu tragen.

 

Demgegenüber rücken die USA jetzt von der Taktik der letzten Jahre, offiziell nur den Drogenanbau und –handel zu bekämpfen deutlich ab und sprechen offen über weitere Militärhilfe zur Aufstandsbekämpfung. Im Zentrum des eskalierenden Krieges steht dann in noch stärkerem Maße die Zivilbevölkerung, die von keiner Konfliktpartei respektiert wird.