Paella und Flamenco kamen nicht allein

Zur Integration von Portugiesen und Spaniern in Deutschland

von Paul Eßer

Globalisierung, Internationalisierung und Verflechtung sind als Entwicklungstrends aller Industriegesellschaften heute im öffentlichen Bewußtsein ebenso präsent wie die daraus erwachsende Tatsache zunehmender Migration. Die Folgen der modernen Migrationsbewegungen für die Menschen, die ihre Sozialisation in einer mal mehr mal weniger "fremden" Umgebung erleben, sind zwar Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion, aber in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit kaum problematisiert. Das aber wäre Voraussetzung für eine offene Gesellschaft, in der Multikulturalität mehr bedeutet als neben Würstchen und Kartoffelsalat auch Kebab und Pizza in der Snack-Bude zu offerieren und Bauchtanz und Flamenco ins volkstümliche Unterhaltungsprogramm aufzunehmen.

 

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem befriedigenden Zusammenleben in einer ethnisch und kulturell gemischten Gesellschaft wäre eine neue Inländerpädagogik, die allen Beteiligten bewußt macht, daß es recht verschiedene Ausländer mit recht verschiedenen Integrationsproblemen gibt. Das zeigt sich z. B. deutlich an der Gruppe der Ausländer mit einem "iberischen" Hintergrund, die sich erheblich von der Mehrheit der temporär oder dauerhaft Eingewanderten unterscheidet und zwar durch folgende Trends:

 

1. Die Anzahl der in Deutschland lebenden Spanier wie auch der Portugiesen verringert sich durch Re-Migration und Abnahme des Zuzugs seit 1973 ständig. Die Migration der Spanier erreichte 1973 mit 287.000 ihren Höhepunkt, 1995 lebten noch 132.283 Spanier in der BRD; eine Verringerung von mehr als 50 Prozent seit 1973 trifft auch auf die Portugiesen zu, von denen 1995 noch 125.131 in der BRD lebten.

 

Die Gründe für Ein- und Rückwanderung sind bei beiden Gruppen sehr ähnlich. Ihre Migration hatte mit der staatlichen Anwerbung von Arbeitskräften durch die BRD (Spanien ab 1960, Portugal ab 1964) begonnen und stieg bis zum Anwerbestopp 1973 ständig an, wobei schon damals die meisten Angehörigen beider Gruppen, da sie aus zwei der sechs Anwerbestaaten kamen, einen sicheren Aufenthaltsstatus und andere Vorteile (z. B. muttersprachlichen Ergänzungsunterricht in den Schulen) genossen.

 

Die Auswirkungen der Demokratisierung der iberischen Länder (Spanien: Francos Tod 1975, Portugal: "Nelkenrevolution" 1974) waren es schließlich , die eine wachsende Zahl ihrer Bewohner von der Auswanderung abhielten oder zurückkommen ließen. Keine andere in der BRD lebende ausländische Gruppe kann einen so kontinuierlichen Rückkehrtrend verzeichnen wie Spanier und Portugiesen, was sich auch nach dem EU-Beitritt 1986 nicht geändert hat. Eine geringe Änderung ist bei den Portugiesen seit Inkrafttreten der vollen Freizügigkeit von EU-Bürgern (1991) zu verzeichnen durch eine neue Art von Arbeitsemigration. Portugiesische Leiharbeitsfirmen schicken billige Arbeitskräfte vor allem ins deutsche Baugewerbe, wo sie auf der Grundlage von Werkverträgen ohne jede soziale Absicherung fremden Reichtum mehren.

 

2. Nur schwer vereinbar mit dem genannten scheint ein anderer Trend: Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Spanier in der BRD liegt mit mehr als 22 Jahren von allen Migrantengruppen am höchsten, die Portugiesen folgen dicht auf. 70 Prozent der Spanier leben länger als 20 Jahre in Deutschland und dementsprechend hoch ist der Anteil der über 45jährigen (40 Prozent).

 

Doch Rückwanderungstrend und Ansässigkeitsdauer widersprechen sich nicht, wenn man einerseits die Migrationsgründe bedenkt, die die Älteren nach Deutschland trieben und hier festhielten, andererseits die im Verhältnis zu anderen Ausländergruppen relativ problemlose Integrierbarkeit von Spaniern und Portugiesen wie überhaupt des gesamten "romanischen" Migrationssegments.

 

Sie fallen nicht auf

 

Damit wird der zentrale soziologische Aspekt einer jeden Einwanderung thematisiert: die Integrationsproblematik. Hier unterscheidet sich die Situation der "Iberer" erheblich von der anderer Einwanderungsgruppen. Der Hauptgrund, kurz gesagt: sie fallen nicht auf, sie sind nicht so anders. Das betrifft Phänotypus, Sprache, Religion, Erziehungstile, Norm- und Wertmaßstäbe, den gesamten Komplex von Einstellungen und Verhalten im alltäglichen Miteinander.

 

Das Aussehen - in der wissenschaftlichen Literatur stets vernachlässigt, wohl weil allzu platt und peinlich - läßt Spanier und Portugiesen kaum als fremd erscheinen - im Gegensatz zu den meisten Einwanderern aus dem östlichen Mittelmeerraum oder gar Exoten aus Afrika und Asien. Religiöse Vorstellungen und Wertorientierungen entsprechen denen der deutschen Mehrheit.

 

Die "romanischen" Herkunftsländer der Arbeitsemigranten waren schon vor der Einwanderung als Ferienländer hochgeschätzt; was von dort kam, genoß allemal einen hohen Sympathiewert, von der Oper und der Malerei - auch der modernen - über die Folklore bis zu Pizza und Paella. Eine entscheidende und in der wissenschaftlichen Literatur so gut wie gar nicht beachtete Integrationserleichterung: das Lächeln. Was den reservierten Nordländern gut tat ("reserviert" wohl auch immer euphemistische Umschreibung für "emotional verkrüppelt"), war die lebhafte, herzliche, unkomplizierte Wesensart, die Freundlichkeit der mediterranen Menschen aus dem lateinischen Kulturkreis.

 

Was Spanier und Portugiesen im Kulturgepäck mitbrachten, ließ sich mit erträglichen Reibungsverlusten in Denkweisen und Lebensformen des aufnehmenden Landes einfügen. Entsprechend häufig finden sich Totalassimilation der Lebensstile bereits in der zweiten Generation und Inter-Marriage. Es gab zu Beginn der Einwanderung Probleme, die mit der Schichtzugehörigkeit korrelierten (Unterschicht/ländliche Herkunft), doch dieser Faktor ist kein einwanderungsspezifischer. Armut wirkt überall deprivierend.

 

Auch die in der Forschungsliteratur immer wieder genannten typischen Probleme der zweiten Einwandungsgeneration sind nicht spezifischer Art, werden allenfalls durch Migration verstärkt: Z. B. das Aufbrechen der patriarchalischen Familienstruktur und der engen Kirchenverbindung, die neue Rolle der (auch berufstätigen!) Frau, das Bildungsgefälle zwischen den Generationen, vor allem seit immer mehr Kinder ihre gesamte schulische Sozialisation in Deutschland durchlaufen und ihr Anteil in den weiterführenden Schulen wächst.

 

Integration durch Sprache

 

Ein tatsächlich nur aus der Migration herzuleitendes Integrationsproblem ist und bleibt der Sprachunterschied. Zum Hintergrund des Sprachenproblems ein paar Bemerkungen:

 

Die Vorstellung einer Mehrheit von Deutschen aller Schichten vom Gemeinwesen ist immer noch bestimmt vom Bild eines ethnisch und sprachlich homogenen Nationalstaates, in dem aus bestimmten Gründen (z. B. Arbeitsimmigration, Asyl) zeitlich befristet eben auch eine gewisse Anzahl von Ausländern lebt, von den einige die Tendenz haben zu bleiben. Das Zusammenleben mit Menschen, die in einer anderen Sprache und Kultur aufgewachsen sind, wird immer noch nicht als Regelfall moderner Gesellschaften begriffen, obwohl die Empirie schon seit der Industrialisierung im letzten Jahrhundert solche Homogenitätsfiktionen nicht mehr zuläßt. Der Anteil ausländischer Kinder betrug in den preußischen Elementarschulen z. B. 12,9 Prozent, 1992 lag er in den entsprechenden BRD-Schulen bei 12 Prozent.

 

Die Pädagogik hat sich seit den 80er Jahren darauf eingestellt. Bestand bei Beginn der "Gastarbeiter"-Immigration die damals sogenannte "Ausländerpädagogik" hauptsächlich in der effektiven Vermittlung von Deutschkenntnissen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Rückkehrfähigkeit, erfolgte ein Perspektivwechsel als Reaktion auf das zusammenwachsende Europa und die zunehmende internationale Verflechtung der Märkte, die eben auch Migration zur Folge hat, die wiederum dauerhafte Ansiedlung begründet sowie die Notwendigkeit einer kulturellen Vermittlungsschicht (Kaufleute, Übersetzer, Journalisten, Medienexperten, Tourismusmanager, Lehrer, usw.). Eine interkulturelle, d. h. auch multilinguale Bildung wurde konzipiert, wenn auch noch eurozentrisch verengt.

 

Mit Blick auf Europa boomen die Sprachangebote in öffentlichen und privaten Schulen. Mehrsprachigkeit für alle scheint als Bildungsdevise am Planungshorizont auf. Daher wird die "natürliche" Mehrsprachigkeit der hier lebenden Ausländerkinder noch nicht genug als Potential ausgeschöpft - weder für die Multi- noch für die Monolingualen. Auch ist eine Schulsprachenpolitik mit dem Ziel der Mehrsprachigkeit über den obligatorischen Englischunterricht hinaus und unter Einschluß auch "kleinerer" Sprachen (vgl. "Schwedisches Modell") bisher allenfalls in Ansätzen erkennbar.

 

Aus dem statistischen Material zweier DIW-Wochenberichte aus 1996 und 1997 geht hervor, daß Beteiligung und Erfolg ausländischer Kinder und Jugendlicher in Schule und Berufsausbildung, die sich bis zu Beginn der neunziger Jahre kontinuierlich verbessert hatten, nun keine Fortschritte mehr machen, doch sind Spanier und Portugiesen hier weniger betroffen als andere Gruppen.

 

Einer gut ausgebildeten Bi- oder sogar Multilingualität bei den Spaniern und Portugiesen ist sicherlich der Umstand von Vorteil, daß ihre Herkunftssprachen - im Gegensatz zum Türkischen z. B. - zur gleichen Sprachfamilie gehören wie das Deutsche, zum Indo-Europäischen. Flexion und Zeitenbildung z. B., sowie weite Bereiche von Etymologie und Semantik sind den Kindern unbewußt ebenso vertraut wie die in diesen Sprachen tradierten literarischen Formen und Inhalte.

 

Was die Koexistenz der Sprachen betrifft: Die schon sehr viel länger und sehr viel intensiver betriebenen Forschungen im klassischen Einwanderungsland USA? zeigen, wie Sprachidentitätsbildung in Sprachkontaktsituationen einander bedingen, wie wichtig es z. B. ist, daß die Herkunfts- und Familiensprache nicht abgewertet wird. Sie zeigen z. B. auch, wann Mehrsprachigkeit zur Belastung wird, und wann sie Bereicherung bedeutet. Beides ist ebenso stark abhängig von Sozialstatus und Sprachbeherrschung der Eltern wie von der Intensität und Häufung der sprachlichen Zuwendung durch sie: alles wie beim Monolingualen.

 

Ein pädagogischer Hinweis: Um nicht Analphabeten oder Halb-Alphabeten in zwei und mehr Sprachen heranzuziehen, ist es wichtig , auch in den Domänen des privaten Sprechens nichts zu vermischen. In Familie, Nachbarschaft und Schule muß Kindern ein adressatenspezifisches code-switching vermittelt werden, d. h. das klare Bewußtsein, wann und warum in welches System zu wechseln ist. In meiner Zeit als Auslandsschullehrer habe ich erfahren, wie unglaublich schnell und korrekt Kinder auf diese Weise mehrere Sprachen parallel erlernten. Die älteren Einwanderer haben oft genug den Fehler gemacht, in schlechtem Deutsch oder in einer (z. B. spanisch-deutschen) Mischsprache mit ihren Kindern zu verkehren, in dem Glauben, sie erleichterten diesen die Eingliederung.

 

Noch eine Bemerkung zu Mehrsprachigkeit. Viele ausländische Kinder sind bereits multilingual, wenn sie in die Schule kommen. Was z. B. spanische Kinder betrifft, wurde manchen von ihnen zuhause katalanisch und kastilisch vermittelt, auf der Straße Niederfränkisch, durch das Fernsehen Hochdeutsch. Englisch ist dann die fünfte Sprache solcher Kinder. Die aktive und passive Kompetenz im Hochdeutschen ist immer noch allein entscheidend für den Schulerfolg aller Kinder - deutscher wie ausländischer - in allen Fächern, da Hochdeutsch in der Schule die einzige akzeptierte Sprachform darstellt, über die Wissen und Erziehung vermittelt werden. Ziel des Sprachunterrichts und der gesamten Bildungsarbeit in einem Land, das sich längst - entgegen allen regierungsamtlichen Falschmeldungen - zu einem typischen Einwanderungsland entwickelt hat, muß eine aufgeklärte Mehrsprachigkeit aller - auch der einheimischen - Schüler und Studenten sein, die Fähigkeit also, situations- und adressatenspezifisch sicher und korrekt die jeweils erforderlichen lingualen Register einzusetzen, in den privaten Domänen ebenso wie in den öffentlichen. Erforderlich ist ein gleichberechtigtes als selbstverständlich empfundenes Nebeneinander verschiedener Sprachen (vgl. das Modell der Europaschulen), deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bildungsarbeit bewußt gemacht werden und zu der Erkenntnis führen: Jede neue Sprache , die wir lernen, vermittelt uns eine neue Weltsicht, und mit jeder Sprache, die wir verlernen, wird ein Fenster zur Welt zugeschlagen.