Mord durch den Staat?

Aufstandsbekämpfung: Politische Hinrichtung und gewaltsames Verschwindenlassen in Paraguay

von Julia Liebermann und Víctor Fernández


Paraguays Regierung unter Präsident Mario Abdó Benítez soll für den Tod von zwei argentinischen Mädchen verantwortlich sein. Außerdem wurde Car- mén Elizabeth Oviedo Villalba, genannt „Lichita“, im November 2020 von paraguayischen Militärs entführt und ist seitdem verschwunden. Um der Straflosigkeit entgegenzutreten wurde die inter- nationale Kampagne Wo ist Lichita? #EranNiñas ins Leben gerufen. 

Devuelvan a Lichita?
©¿Donde está Lichita? #Eran Niñas

Plakate unterstreichen die Verantwortung des Staates Paraguay 

Eine fehlgeschlagene Militäroperation oder grausamer Mord und Entführung? Darum geht es in dem Fall einer Entführung und zwei Morden von drei jungen Mädchen. Nicht alle Fakten sind klar, fest steht aber: Am 2. September 2020 griff die Ein- heit Fuerzas de Tareas en Conjunta (FTC) der paraguayischen Armee eine Gruppe von Personen nahe eines Guerillalagers der paraguayischen Volksarmee (Ejecito del Pueblo Paraguayo, EPP) in der Stadt Yby Yaú an.

Die EPP ist eine kleine rurale marxistisch-leninistische Guerilla, die laut ihrer Grundsatzerklärung „als Antwort auf die Gewalt gegen die arme Bevölkerung, als Mittel der Selbstverteidigung einiger bäuerlicher Gemeinden der ärmsten Departements des Landes“ entstanden ist. Seit mehr als einem Jahrzehnt kämpft der Staat Paraguay gegen diese Guerillag- ruppe, auf deren Konto zahlreiche gewaltsame Aktionen und Geiselnahmen gehen. Der Staat Paraguay reagiert mit harter Hand und repressiven Praktiken der Aufstandsbekämpfung. Der Fall der Mädchen macht dies deutlich. Das Gebiet, in dem der Angriff auf die Mädchen stattfand, ist hoch militarisiert.

María Carmen und Lilian Mariana Villalba, beide 11 Jahre alt, Töchter von EPP Guerillas, wurden bei dem Angriff der FTC zunächst gefangen genommen und verschleppt. Carmén Oviedo Villalba, „Lichita“, damals 13 Jahre alt, wurde bei dem Angriff am Bein verwundet, konnte aber gemeinsam mit ih- rer Zwillingsschwester, ihrer Cousine und ihrer Tante Laura Villalba entkommen.

Später fand man María Carmen und Lilian Mariana Villalba in einem Waldgebiet in Armeejacken gekleidet tot auf. Para- guays Präsident Mario Abdó Benítez posierte noch am selben Tag mit einer kugelsicheren Weste und einer Waffe am Gürtel neben den Leichen der Mädchen. „Wir haben eine erfolgreiche Operation gegen die EPP gehabt. Nach einer Konfrontation sind zwei Mitglieder dieser bewaffneten Gruppe getötet wor- den“, sagte er. 


Falschinformationen und der Kampf gegen die staatlichen Vertuschungsversuche

 

An dieser offiziellen Version kamen schnell Zweifel: Die Be- hörden hatten die minderjährigen Mädchen ohne Autopsie eilig beerdigt und ihre Kleidung verbrannt. Daran gab es von vielen Seiten Kritik. Pablo Lemir, Direktor der Rechtsmedizin in Para- guay, erklärte in einem Radiointerview am 7. September 2020, die Kleidung sei „grundlegend für die kriminalistische Arbeit“. Sie zu verbrennen ist also im besten Fall grob fahrlässig, im schlechtesten Vertuschung. Nachdem er die Kinderleichen wieder ausgegraben hatte, stellte der Rechtsmediziner Merkmale einer Hinrichtung fest: Die Mädchen wurden in den Rücken geschossen, eines von ihnen hatte eine Schusswunde im Kopf. Die Vereinen Nationen, die Interamerikanische Kom- mission für Menschenrechte, sowie zahlreiche internationale Menschenrechtsorganisationen zweifeln an der offiziellen Darstellung der Ereignisse und verurteilen die Attacke auf die Mädchen. Aktivitist:innen erheben die Anklage, es handele sich um politische Hinrichtungen, Morde an Minderjährigen sowie Feminizide. Die staatlichen Aktionen würden darauf abzielen, Familienmitglieder der EPP zu bestrafen und die Moral der Guerilla zu schwächen.

Als wäre der Tod der beiden Mädchen nicht schon schlimm genug, verschwand im November 2020 auch noch Lichita nahe des Cerro Guasú in Paraguay. Sie war im September Zeugin des Angriffs durch die FTC geworden. An einem Tag im November wartete sie auf ihre Cousine Tamara, ihre Zwil- lingsschwester Anahí und ihre Tante Laura Villalba. Seitdem wird sie vermisst. Die Anwältin Daisy Irala Toledo sagt dazu: „Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in den Händen der FTC befindet“. Sie ist die ehemalige Anwältin von Laura Villalba, der Tante von Lichita, die ihr Verschwinden angezeigt hatte.

Bei ihre Suche nach Lichita wurde Laura Villalba im De- zember 2020 festgenommen und in die Militärkaserne Viñas Cué gebracht. Sie wird der „administrativen Unterstützung der EPP“ bezichtigt. Beobachter:innen befürchten, dass sie keinen fairen Prozess bekommen wird. Zuvor wurde sie von Tamara, 19 Jahre, und der Zwillingsschwester von Lichita, Anahí, getrennt, die sich nach dem Angriff im September weiterhin bei ihr befanden. Eigentlich wohnt die Familie in Argentinien, wegen der Pandemie hatte sie nicht dorthin zurückkehren können. Anahí und Tamara sind inzwischen zurück in Argentinien. Angesichts der Gefahr für ihr Leben wurde ihnen von der Nationalen Kommission für Flüchtlinge von Argentinien der Flüchtlingsstatus zuerkannt.

©¿Donde está Lichita? #Eran Niñas
Die internationale Kampagne ¿Donde está Lichita? #Eran Niñas fordert die Aufklärung der politischen Hinrichtungen und die Rückkehr von Lichita. ©¿Donde está Lichita? #Eran Niñas

Internationale Kampagne “Wo ist Lichita? #Eran Niñas” 

 

Die Familie Villalba ist eng mit der EPP verbunden. Lichita und Anahí sind Töchter von Carmen Villalba, einer der Gründe- rinnen der EPP. Allerdings waren die Mädchen nie Mitglieder dieser Guerillaorganisation. Sie waren Familienmitglieder; keine Konfliktparteien. Sie lebten mit ihrer Tante in Argentinien und hatten sich auf den Weg nach Paraguay gemacht, um ihren biologischen Vater kennenzulernen, als die FTC sie angriff.

Die internationale Kampagne “Wo ist Lichita? #Eran Niñas” wurde ins Leben gerufen, um den Fall international sichtbar zu machen. Mit Erfolg: Aktivist:innen organisierten bisher Demonstrationen vor den diplomatischen Vertretungen Paraguays unter anderem in Uruguay, Argentinien, Italien, Chile und dem Baskenland. Da es sich bei den Mädchen um argentinische Staatsangehörige handelte, hat sich auch die Regierung Argentiniens unter Präsident Alberto Fernández zu den Vorfällen geäußert und forderte von Paraguay eine schnelle Aufklärung. Doch größerer diplomatischer Druck ist bisher ausgeblieben.

Im Januar 2021 wurde Anahí Oviedo von dem UN Menschenrechtsausschuss und dem Ausschuss für die Rechte des Kindes angehört. Nachdem ihre Aussage den Staat Paraguay schwer belastete, sagte die Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet, sie habe „zuverlässige“  Zeugenaussagen erhalten, die „der offiziellen Version der paraguayischen Regierung widersprechen“ und fordert den paraguayischen Staat auf, die Suche nach Lichita „umgehend“ voranzutreiben. 

 

Systematische Repression und Straflosigkeit für den Staat

 

Methoden der staatlichen Repression im Kampf gegen die Guerilla wie nun in Paraguay, habe lange Tradition in latein- amerikanischen Staaten. Lichitas Mutter, Carmen Villalba, sagt in Bezug auf die systematische politische Unterdrückung und die staatliche Straflosigkeit: „Wir müssen wissen, was mit Lichita passiert ist. Es kann nicht sein, dass sie verschwindet, dass sie aus einem Gebiet verschwindet, das vom Militär kon- trolliert wird, dass alles vertuscht wird, dass die Geschichte zum Schweigen gebracht wird. Die Situation von Lichita [...] das ist nichts Neues in Lateinamerika [...] es ist auch nicht neu, dass sich das Volk erhebt, dass das Volk anprangert, dass das Volk seine Söhne, seine Töchter sucht, die durch den Staat verschwunden gelassen worden sind.“

Paraguay hat 2007 die Internationale Konvention zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (CPED) unterzeichnet. Diese Konvention verpflichtet die Staaten, umfassende Untersuchungen bei der Suche nach ver- schwundenen Personen durchzuführen, wenn staatliche Akteu- re oder Personen, die vom Staat autorisiert wurden, involviert waren. In den Augen von internationalen Beobachter:innen verstößt die paraguayische Regierung, allen voran Mario Abdó als Oberbefehlshaber der Armee, gegen diese Konvention. 

Wer ist verantwortlich für die Morde und das Verschwindenlassen der Mädchen?

 

Die Politik der Aufstandsbekämpfung, die Paraguay gegen die marxistisch-leninistische Guerillaorganisation Paragua- yische Volksarmee betreibt, ist auch strukturell verankert. Änderungen des Staatssicherheitsgesetzes erlaubten Paraguays Präsidenten, die FTC im Inneren im Kampf gegen die EPP einzusetzen. Obwohl die FTC für ihr brutales Vorgehen be- kannt ist, genießt sie weitestgehend Straffreiheit.

Auch im aktuellen Fall gibt es wenig Aussicht auf Auf- klärung: Wahrscheinlich werden die Verantwortlichen aus der Politik nicht zur Rechenschaft gezogen und die brutalen Strukturen des Militärs bleiben bestehen. Die Aktivist:innen von #EranNinas wollen das nicht zulassen. Bisher haben sie es geschafft, den diplomatischen Druck zu erhöhen und in- ternationale Solidarität aufbauen. Das Europäische Parlament befasst sich in einer parlamentarischen Anfrage mit dem Fall und es wurden Delegationen zu UNICEF entsandt. Die Aktivist:innen wollen weiter machen bis die Wahrheit über den Tod von Maria und Lilian ans Licht kommt, bis Laura Villalba freigelassen wird und bis Lichita wieder auftaucht. 

©¿Donde está Lichita? #Eran Niñas
Transparente verdeutlichen die Forderungen der Kampagne. ©¿Donde está Lichita? #Eran Niñas

Julia Liebermann ist Politikwissenschaftlerin. Sie forscht zu Gewaltenteilung und der Umsetzung von Menschenrechten und promoviert derzeit in Frankfurt am Main.

 

Víctor Fernández ist chilenischer Soziologe mit Schwerpunkt Lateinamerikastudien und Redakteur der Zeitung El Irreverente.