Hybride Experimente und Genre-Kino

Der lateinamerikanische Film auf der Berlinale

von Sonja Hofmann

Die Berlinale fand in diesem Jahr coronabedingt gleich zwei Mal statt: zunächst im März als Online-Version nur für Branche und Presse abgehalten, wurde nun im Juni dem Berliner Publikum das Programm als Open-Air-Festival geboten. Im Wettbewerb stellte der mexikanische Filmemacher Alonso Ruizpalacios mit der Netflix-Produktion "Una película de policías" sein neues Hybrid-Werk vor. Eine ebensolche Mischung aus realen und inszenierten Szenen wurde mit dem Publikumspreis der Sektion Panorama ausgezeichnet: der brasilianische Film "A Última Floresta" erzählt bildgewaltig vom Kampf der Yanomami um den Erhalt ihres Lebensraums. Auch Ausflüge ins Genre-Kino ließen sich auf der Berlinale entdecken, wie etwa der Polizei-Thriller "Azor" von Andreas Fontana.

"Una película de policías" von Alonso Ruizpalacios (Credit: No Ficción)
"Una película de policías" von Alonso Ruizpalacios (Credit: No Ficción)

"Una película de policías" stellt für den mexikanischen Filmemacher Alonso Ruizpalacios die bereits dritte Berlinale-Teilnahme nach seinen erfolgreichen Werken "Güeros" (2014, Preis für das beste Erstlingswerk) und "Museo" (2018, Silberner Bär für das Beste Drehbuch) dar. Seine Vorliebe zum Roadmovie ist unübersehbar: Während sein Debüt "Güeros" – ein poetisch-assoziativer Film in Schwarz-Weiß, basierend auf den studentischen Streiks im Jahre 1999 – von zwei Brüdern handelt, die mit einem Freund quer durch Mexiko-Stadt fahren, um einen Musiker zu finden, ist "Museo" ein aufwändig inszeniertes Roadmovie, das auf dem wahren Fall eines Einbruchs ins Nationalmuseum für Anthropologie basiert und den Weg der Amateur-Verbrecher zu den Maya-Ruinen von Palenque bis nach Acapulco nachzeichnet. Mit seinem neuen Film "Una película de policías" stellt Ruizpalacios nun erneut seine Vielseitigkeit unter Beweis. In diesem inszenierten Dokumentarfilm stellen zwei professionelle Schauspieler*innen den Polizeialltag in Mexikos Metropole als Selbsterfahrungs-Trip nach. Mehrere Monate haben Mónica del Carmen (Teresa) und Raúl Briones (Montoya) die Polizei-Akademie besucht und Polizist*innen bei ihrer realen Arbeit begleitet. Ihre Erfahrungen haben sie dabei mit der Handykamera festgehalten, um ihre Mitkadetten von ihren jeweiligen Beweggründen erzählen zu lassen.

 

Durch eine geschickte Montage wird das Publikum zunächst in die Irre geführt und hält Teresa und Montoya für "echte" Polizist*innen im Einsatz. Mal in direkter Aktion, mal in kommentierender Position in die Kamera schauend. Erst in der zweiten Hälfte des Films deckt Ruizpalacios auf, dass es sich um Schauspieler*innen handelt, um einen "Film im Film". Doch gerade durch diesen Perspektiv-Wechsel, durch den Balanceakt an der Grenze zwischen Fiktion und Realität, werden durch die sich verändernden Blickwinkel die viel zu kurze Ausbildungszeit, die Machtstrukturen innerhalb eines dysfunktionalen Polizei-Systems und ihr Korruptionsgeflecht in die Drogen-Industrie reflektiert. Der raffinierten Struktur des Films hätte jedoch eine breitere Sicht auf die Verhältnisse gut getan. Die dargestellten Perspektiven ähneln sich zu sehr und werden zum Ende hin gar etwas redundant. So nimmt Ruizpalacios erstmals keine Auszeichnung mit nach Hause, lieferte jedoch erneut ein visuell spannendes Filmformat ab.

 

 

©Pedro J. Márquez
"A Última Floresta“ von Luiz Bolognesi erhielt den Panorama-Publikumspreis; ©Pedro J. Márquez

"A Última Floresta" erhält Publikumspreis

 

Mit seinem ebenfalls hybriden Konzept aus realen und inszenierten Szenen konnte hingegen der brasilianische Film "A Última Floresta" überzeugen, der während der Sommerberlinale mit dem Publikumspreis in der Sektion Panorama ausgezeichnet wurde. Der Filmemacher und Anthropologe Luiz Bolognesi liefert ein bildgewaltiges und beeindruckendes Zeugnis über die indigene Gemeinschaft der Yanomami, das zwischen beobachtenden Aufnahmen und gespielten Sequenzen wechselnd ihre bedrohte Lebenswelt in den Regenwäldern des Amazonasgebietes schildert. Seit dem Amtsantritt Bolsonaros dringen hier wieder vermehrt Goldsucher ein, die das Wasser mit Quecksilber vergiften und tödliche Krankheiten einschleppen, wie zuletzt den Corona-Virus. Eine zentrale Rolle im Film nimmt Davi Kopenawa Yanomami, Schamane und Sprecher der Yanomami-Gemeinschaft, ein, der als Co-Autor am Film mitwirkte und sich auch im Ausland für die Bewahrung der Kultur der Yanomami einsetzt, die seit über eintausend Jahren in den Wäldern im Norden Brasiliens und Süden Venezuelas beheimatet sind.

Zwischen diese dokumentarischen Sequenzen fügen sich erstaunlich homogen inszenierte Spiel-Szenen ein, die von den Ursprungsmythen der Yanomami und ihrem besonderen Verhältnis zur Natur erzählen und mit dem stimmigen Sounddesign eine vielschichtige Erzählung über den fortwährenden Kampf um den Erhalt ihres Lebensraums bilden.

©Pedro J. Márquez
"A Última Floresta“ von Luiz Bolognesi erhielt den Panorama-Publikumspreis; ©Pedro J. Márquez

Spiel mit dem Genre-Kino: "Azor"

 

Neben hybriden Experimenten ließen sich auch Genre-Formate entdecken: Andreas Fontana spielt in seinem Debüt-Film "Azor", der in der Encounters-Sektion gezeigt wurde, mit dem Genre des Polit-Thrillers. Während der argentinischen Militärdiktatur reist der Schweizer Privatbankier Yvan De Wiel mit seiner Frau nach Buenos Aires, um seinen verschwundenen Partner René Keys zu suchen und dessen reiche Geschäftskunden zu übernehmen. Unterstützt von Co-Autor Mariano Llinás, der mit seinem faszinierenden 14 stündigen Filmprojekt "La Flor" (2018) sein verspieltes erzählerisches Talent unter Beweis gestellt hatte, entspinnt Fontana ein geheimnisvolles Geflecht aus dekadenten Großgrundbesitzern, Adeligen und Neureichen sowie korrupten Militärs, deren Hauptinteresse jeweils ihrem Besitz gilt, den sie in Sicherheit wiegen wollen. Die schöne Welt der weißen Elite wird dabei in ruhigen und künstlich wirkenden Tableaus inszeniert, als habe sie nichts mit der anderen Welt da draußen zu tun, wo auf den Straßen, wie beiläufig, junge Menschen verhaftet werden. Während sich De Wiel zunächst beobachtend zurücknimmt, um die undurchsichtigen geschäftlichen Arrangements der argentinischen Kundschaft zu verstehen, verändert sich bald die Tonalität des Films. Je tiefer der Banker De Wiel hier eindringt und die Machtspiele nicht nur durchschaut, sondern an Skrupellosigkeit zu übertrumpfen sucht, umso doppeldeutiger, zwielichtiger und morbider gestaltet sich der Film, der damit auf subtile Weise neokolonialistische Machtstrukturen jenseits aller Moral zum übergeordneten Thema macht.

 

 

 

Sonja Hofmann ist Filmkuratorin und leitet die Kulturredaktion von matices.