PIOLA

Coming of Age zwischen Rap, Party, Gewalt und Gefühlen

von Laura Sinah Gutensohn

„Die Straßen sind nicht schön, so wie es Neruda behauptet hat“, rappt der junge Chilene Martin in dem Coming of Age-Drama Piola. „Dunkle Ecken, Drogen und Wahnsinn“, heißt es weiter. Der Film trifft den Zahn der Zeit: Im Oktober 2019 entwickelt sich aus anfänglichen Demonstrationen gegen die Erhöhung der Nahverkehrspreise in Santiago eine nationale Bewegung, die für mehr soziale Gerechtigkeit in ganz Chile kämpft. Doch der Film des Regisseurs Luis Alejandro Pérez García ist keineswegs ein plump-politischer Streifen, der sich mit der Bekämpfung von Ungleichheiten auseinandersetzt. Vielmehr ist er ein ehrlicher Einblick in das Leben dreier junger Menschen aus Chilicura, einem Stadtteil von Santiago, der von eben diesen Unruhen geprägt ist.

 

Im Mittelpunkt dessen steht der Traum einer Rapper-Karriere, den Martin und Charly mit ihrem Trio De La Urbe zwischen Schule und familiären Problemen verwirklichen wollen. Obwohl sich dieser Wunsch durch die gesamte Geschichte zieht, ist Piola kein klassischer Musikfilm. Zwar trägt die Musik die Charaktere subtil durch den Film, fungiert als Ventil, als Möglichkeit, sich auszudrücken, gleichwohl als Story-Element. Angetrieben werden die beiden Schüler jedoch vielmehr von ihren alltäglichen Problemen, denen sie versuchen zu entfliehen.

 

Martin steht im Konflikt mit seinem Vater, der nicht an die Musikkarriere seines Sohnes glaubt und der Meinung ist, mit Kunst könne man in Chile kein Geld verdienen. Sein Schulfreund Carlos, genannt Charly, ist derweil im Clinch mit seiner Exfreundin, weil er sich zu wenig um den gemeinsamen Sohn kümmert. Er fühlt sich verloren zwischen der Verantwortung für Familie, Job, Schule und Musikkarriere. Parallel dazu erhaschen wir einen Einblick in das Leben von Sol, die sich auf die Suche nach ihrem weggelaufenen Hund macht. Auch sie schlägt sich mit den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens herum: ein Freund, der nicht wirklich einer ist; eine Mutter, von der sie sich nicht verstanden fühlt.

 

Das Thema der sozialen Ungerechtigkeit zieht sich eher unterschwellig durch den Film, obgleich es durch die Lebensrealitäten der Protagonist*innen stets spürbar ist. Eine Pistole, die Martin am Anfang des Films findet und mitnimmt, schwebt wie ein Damoklesschwert über den alltäglichen Momenten. Für die Zuschauenden wird sie damit ein Symbol der Unberechenbarkeit und transportiert ein Gefühl der immer wieder aufkommenden Anspannung. In diesen spannungsgeladenen Momenten ist es kaum möglich, den Ausgang abzuschätzen. So wirkt der Film, obwohl eher ruhig erzählt, doch kurzweilig und unterhaltsam.

 

Während der Fokus des Coming of Age-Dramas auf den drei Jugendlichen liegt, erreicht der Regisseur durch die Auseinandersetzungen mit den Familien immer wieder einen Perspektivwechsel. Verantwortungslose Teenager-Attitüden werden nicht geduldet; weder von Sols Mutter und Martins Eltern, noch von Carlos' Ex-Freundin. Diese kurzen, aber bedeutsamen Szenen ermöglichen einen objektiveren Blick auf das Geschehen und runden die verschiedenen Persönlichkeiten ab.

Luis Alejandro Pérez García schafft es, die Sehnsüchte und Sorgen der Charaktere darzustellen, ohne dabei einer klassischen Dramaturgie zu folgen. Piola wirft die Zuschauenden vielmehr in das Leben der Protagonist*innen und erlaubt einen Einblick in zwei Tage voller Rap, Party, Gewalt, Gefühlen und: Alltag. So plötzlich, wie man in der chilenischen Realität der drei Jugendlichen ankommt, so schnell wird man wieder rausgerissen. Die ehrlichen und ungeschönten Momente fügen sich damit zu einem gelungenen Gesamtwerk zusammen.

 

Laura Sinah Gutensohn ist Redakteurin bei Matices


La Jauría |Die Meute

Jagd auf Frauen und auf das Patriarchat

von Lea Stromowski

©amazon.com
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Eine junge Frau in Schuluniform, vielleicht 15 Jahre alt, sitzt auf einem Tisch. Sie schaut in die Kamera, scheint sich unwohl zu fühlen. Die Kameraführung ist amateurhaft. Die männliche Stimme hinter der Kamera gibt Anweisungen: „Entspann dich. Ahme den Buchstaben A nach. Mach’s mir nach. Spürst du schon ein Kribbeln?“ Die Kamera filmt dabei näher an das Gesicht der schweratmenden Frau heran, die den Buchstaben „A“ stöhnt bis der Mann hinter der Kamera mit ihr zufrieden ist.

 

Schon nach den ersten Sekunden der chilenischen Serie „La Jauría“ – auf Deutsch „Die Meute“ – ist man als Zuschauer*in erschüttert. Zugleich treibt einen das Unwissen über den Ausgang der Szene an: Was ist mit der Schülerin passiert?

Schnell wird klar, dass sich Szenen wie die der Eingangssequenz nicht nur einmal abgespielt haben. An einer katholischen Eliteschule im gehobenen Teil der chilenischen Hauptstadt Santiago protestiert eine Gruppe von Schülerinnen für die Entlassung des Schauspiellehrers Ossandón, der Mann hinter der Kamera. Sie haben den psychischen und physischen Missbrauch öffentlich gemacht - Ossandón betont, es handele sich nur um Schauspiel.

 

Als die Anführerin der Protestierenden, die junge Blanca, verschwindet, entwickelt sich die Handlung zu einem äußerst brutalen und dramatischen Kriminalfall.

 

Ein Onlinevideo ihrer Gruppenvergewaltigung ruft die drei Kriminalkommissarinnen Fernández, Farías und Murillo auf den Plan. Die Frauen haben selbst Erfahrung mit Unterdrückung und Gewalt in Form von gewalttätigen (Ex-)Männern oder chauvinistischen Vorgesetzten gemacht. Sie kommen dem Spiel des „Wolfes“ auf die Schliche, welcher im Darknet „Soldaten“ zur Jagd auf Frauen, zu Entführungen und Vergewaltigungen rekrutiert. Dabei geraten die drei Kommissarinnen und ihre Familien selbst ins Visier des Wolfes. Gemeinsam mit den protestierenden Schülerinnen und der auf eigene Faust ermittelnden Schwester der verschwundenen Blanca bilden sie die starken, weiblichen Hauptcharaktere der Serie.

 

Die 2020 erschienene und 2021 auf Arte ausgestrahlte Serie behandelt ein ebenso hochaktuelles wie sensibles Thema: Verwurzelte Misogynie in der Gesellschaft, die sich in unsäglicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen sowie in Missbrauch zeigt.

Chile als Austragungsort ist dabei nicht zufällig gewählt. Die gewaltvolle Vergangenheit der Militärdiktatur unter Pinochet, verbreitete Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und der tief verwurzelte „Machismo“ in der chilenischen Gesellschaft spielen genauso eine Rolle wie die Proteste von 2019 gegen die chilenische Regierung und Gewalt gegen Frauen, die von den feministischen Bewegungen getragen wurden.

 

Auch der Titelsong „No estamos solas“ ist bereits ein Statement. Dieser stammt von der franko-chilenischen Rapperin Ana Tijoux, die über die Landesgrenzen hinweg für ihre sozialkritischen Texte und ihr Engagement für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit bekannt ist. „La Jauría“ knüpft damit nicht nur an die weltweite MeToo-Bewegung an, sondern basiert auch auf einem realen Vergewaltigungsfall in Pamplona, Spanien, der die Öffentlichkeit im Jahr 2016 erschütterte. Die Gruppenvergewaltigung einer 18-jährigen Frau wurde damals gefilmt und online in einer Gruppe namens „La Manada“ („Das Wolfsrudel“) geteilt.

 

Produziert wurde die Serie von den Brüdern Juan de Dios und Pablo Larraín, die 2018 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film („Una mujer fantástica“) gewannen. Die Regisseurin und Koproduzentin Lucía Puenzo aus Argentinien ist ebenfalls als Schriftstellerin und Drehbuchautorin bekannt. Auch ihr Drama „XXY“ wurde mehrfach ausgezeichnet.

 

Besonders beeindruckend in „La Jauría“ ist, dass die Frauen trotz der brutalen Jagd auf sie nicht in einer Opferrolle, sondern als starke Persönlichkeiten mit Handlungsmöglichkeiten dargestellt werden, die den Verlauf der Geschichte in die Hand nehmen und trotz aller Widrigkeiten eng zusammenarbeiten. Genauso differenziert wird berichtet, wie schnell jugendliche Männer in die Fänge des Wolfes und seiner gefährlichen Onlinejagd geraten können – ohne den Männern damit ihre Verantwortung abzusprechen oder ihr Handeln zu entschuldigen.

Misogynie und Gewalt gegen Frauen werden nicht als tragische, spannend inszenierte Einzelfälle behandelt. Vielmehr werden die tief verwurzelten Strukturen in ihrer jahrhundertealten Geschichte problematisiert. Der Fokus liegt auf dem mächtigen, davon profitierenden Patriarchat und einigen männlichen Schlüsselfiguren in der chilenischen Gesellschaft.

 

Leider fehlt es einigen Handlungssträngen der Serie an Tiefe. Obwohl verständlich ist, dass möglichst viele Facetten des Patriarchats, der Unterdrückung von Frauen und der leidvollen Geschichte Chiles angesprochen werden sollen, werden einige Handlungsstränge nur angeschnitten. Für die Zuschauer*innen bleiben demnach viele Fragen ungeklärt.

 

Vielleicht bleibt es einfach abzuwarten, wohin diese Geschichten in der bereits bestätigten zweiten Staffel führen werden.

 

Lea Stromowski ist Redakteurin bei matices