"El Pueblo"

Lateinamerika-Schwerpunkt bei den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen

Der Begriff „pueblo“, der sich auf das einzelne Dorf genauso bezieht wie auf das Volk im allgemeinen, ist in der lateinamerikanischen Filmgeschichte stark politisch geprägt. Im „Neuen Lateinamerikanischen Kino“, einer Bewegung, die in den 1960ern den gesamten Kontinent erfasste, wurde das Volk erstmals zum Protagonisten in den lateinamerikanischen Filmen. Der diesjährige Schwerpunkt der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen befasste sich in acht thematischen Programmen mit der Suche nach der heutigen politischen Wirklichkeit und den Akteuren im lateinamerikanischen experimentellen Kurzfilm.

von Sonja Hofmann

Bereits in den 1920ern brachte der Modernismo in Brasilien eine Bewegung hervor, die neue ästhetische Elemente mit einem verstärkten politisch gesellschaftlichen Engagement verband. Dabei stand die Debatte um ein adäquates Bild der brasilianischen Wirklichkeit, geprägt von Armut und sozialer Ungleichheit, im Vordergrund, die das Bewusstsein gegenüber den sozialen Problemen des Landes schärfen sollte. Als Ausgangspunkt hierfür diente die cultura popular, die in Abgrenzung gegen den Kulturbegriff der Eliten alle künstlerischen und kulturellen Manifestationen der Bevölkerung umfasste. Damit integrierte der Diskurs dieser Bewegung die Mehrheit der Bevölkerung in die Konstruktion des Bildes von der brasilianischen Wirklichkeit.

Die agitatorische und revolutionäre Kraft der folgenden Filme der 60er Jahre mit ihrer Propagierung einer gemeinsamen kollektiven Identität, ist im aktuellen lateinamerikanischen Problematiken gewichen und einer Konzentration auf Details, auf einzelne Individuen, lokale Probleme und Besonderheiten.

Federico Windhausen, Kurator des Lateinamerika-Schwerpunktes „El Pueblo“ und Filmwissenschaftler aus Buenos Aires, stellte bei der Vorstellung des Programms in Oberhausen diese Wichtigkeit des Lokalen, des örtlichen Bezugs heraus, der essentiell ist, um tiefergreifende Prozesse zu verstehen, getreu dem Motto: think local – act global.

örtliche, regionale Bezug und die Darstellung einzelner Ereignisses auf übergeordnete Thematiken verweisen, darunter etwa Problemfelder wie Verstädterung, die Automatisierung von Arbeit oder politischer Widerstand einzelner Akteure und Gruppen.

Zu entdecken galt es dabei vor allem experimentelle Kurz - den sozialen Medien. Sie beleuchten sozialpolitische Mikro- Lateinamerika des 21. Jahrhunderts.

 

Von Arbeit und Würde

 

Die Entmenschlichung des Arbeiters und die Instrumentalisierung menschlicher Arbeit bildeten das Thema im Programmblock „Arbeit ist Abwesenheit“. Einen Versuch gegen die Entwertung des arbeitenden Subjekts unternimmt darin der mexikanische Regisseur Nicolás Pereda in seinem Film „El Palacio“, einem Experiment an der Grenze zwischen Dokumentation, Fiktion und Reality-Show. Er kreiert darin einen utopischen Raum, eine Villa, in der verschiedene Frauen mental auf ihre Arbeit als zukünftige Hausangestellte vorbereitet werden. Neben putzen, kochen, Betten machen oder Vorstellungsgespräche vorzubereiten. Ein weiblicher Coach gibt ihnen Verhaltens-Tipps, wie sie z.B. die Fragen nach ihren Koch- und Putzfähigkeiten am besten beantworten sollten. Pereda arbeitete hier erneut mit der Schauspielerin Teresa Sánchez zusammen, auf deren Gesprächen mit den Frauen der Film basiert.

Der Beruf der Hausangestellten ist in Lateinamerika nach wie vor sehr verbreitet. Oft sind es junge Frauen vom Land, die niemand darauf vorbereitet, was sie in der Stadt erwarten könnte. Diese Situation greift Pereda hier spielerisch auf. Der Bezug zum Pueblo-Begriff ergibt sich dabei aus der traditionellen Gegenüberstellung von Arbeiterinnen und künftigem „Arbeitgeber“. Die erfundenen Bewerbungsgespräche entlarven die eigentliche Absurdität dieses Klassenkampfes. Der Programmtitel „Arbeit ist Abwesenheit“ meint hier die Abwesenheit von Würde.

 

Wucherungen der Metropolen

 

Der Programmblock „Máquina de Cidade“ nimmt die Welt der städtischen Metropolen ins Visier. Ein Highlight dieses Programms ist der zensierte Klassiker von Joaquim Pedro de Andrade „Brasília, contradições de uma cidade nova“ von 1967, der erst vor wenigen Jahren im Archiv des Museums für Moderne Kunst in Rio de Janeiro wiederentdeckt wurde. Das Drehbuch des neu entstandene Metropole Brasília verfasste de Andrade gemeinsam mit dem Filmkritiker Claude Bernardet und dem Architekten Luís Saia. Brasília verkörperte für Cinema Novo-Vertreter Joaquim Kunst: für die meisten Menschen nicht zugänglich zu sein. - ten Highway-Konstruktionen, schicken Appartement-Blocks und die Präsidenten-Residenz der neuen Hauptstadt porträtiert, mit launiger Musik und Vogelstimmen unterlegt, schleicht sich allmählich beißende Kritik ein: der Plan der Architekten sah eine faire Stadt vor, frei von sozialer Diskriminierung, ohne Trennung in reiche und arme Wohnviertel. Um all die Arbeiter aus dem Nordosten unterzubringen, wucherten jedoch schnell die Satellitenstädte außerhalb der urbanen Grenzen. Zahlreiche integrierte Interviews mit Bauarbeitern, denen keinerlei Rechte gewährt wurden, wandelten die eigentliche Auftragsarbeit zum Architekturwunder Brasília zu einer politischen Anklage. Der Auftraggeber, die Firma Olivetti, lehnte den Film ab, auch Stararchitekt Oscar Niemeyer unternahm nichts gegen die folgende Zensur. So verstaubte das großartige und höchst kritische Werk für lange Zeit in den Archiven. Stadt oft auch auf humoristische Weise: in „Faixa de pedestres“ (2014) sorgt die Gruppe „Corpos Informáticos“ für Unruhe auf den Straßen. Mit einem mobilen Zebrastreifen, den sie mit sich führen und einfach mal auf einer Straße ausbreiten, evozieren sie vorübergehendes Verkehrs-Chaos.

Der Film „E“ (2014) befasst sich mit der verheerenden Parkplatz-Situation von São Paulo: Helena Grama Ungaretti, Miguel Ramos und Alexandre Wahrhaftig fanden bei ihren Recherchen heraus, dass viele Häuser nur gekauft werden, um sie zu zerstören und kontrollierte Parkplätze zu bauen. Eine Szene zeigt sogar einen privaten Auto-Lift, mit dem eine Dame ihr Auto nach oben in ihre Wohnung bringt und es bequem direkt neben ihrem Wohnzimmer einparkt.

Viele der kurzen experimentellen Formate überzeugen neben dem Thema vor allem durch ihre Machart, sei es der kolumbianische Film „Echo Chamber“ (2014) von Guillermo Eisenbahnnetzes mit dem Verhältnis des Landes zur Modernität spiegelt und als Zerstörungsprozess der imaginären Landkarte inszeniert, indem ein Motorradfahrer auf einer Draisine die alten Schienen abfährt und über Lautsprecher vor Katastrophen warnt. Sei es „Valentín de las Sierras“ (1967) von Video-Künstler Bruce Baillie, der die zentralmexikanische Stadt Chapala über deren Bewohner und über Gitarrenklänge Nahaufnahmen von dem Gesicht eines Bauern, eines Pferdes, so nah, dass nur noch Ausschnitte wahrnehmbar sind. So nah, dass wir in die Menschen, in den Film selbst einzutauchen glauben.

Eine kluge und interessante Zusammenstellung, die ihr Vorhaben erreicht hat: Anregungen zu geben, um nach dem Filmerlebnis noch weiterzudenken. 

 

 

Sonja Hofmann ist Filmkuratorin und leitet die Kulturredaktion von Matices.